CILIP Bürgerrechte & Polizei/CILIP 56 (1/97)

Der CASTOR-Transport 1997

- Demonstrationen und Polizeieinsätze


von Wolf-Dieter Narr

Das 'Komitee für Grundrechte und Demokratie' hat mit mindestens einem Dutzend Teilnehmenden den dialektischen Prozeß zwischen Castor-Transport, Polizei und Demonstrierenden vom 28.2. bis zum 5.3.97 beobachtet.(1) Über deren Beobachtungen hinaus stützt sich die folgende Analyse auf Presseerklärungen des Direktors der Polizei bei der Bezirksregierung Lüneburg; auf die Presseberichterstattung während des einschlägigen Zeitraums; auf Berichte von Pastorinnen und Pastoren in Lüchow-Dannenberg(2) und auf Beobachtungen und Auskünfte von Anwältinnen und Anwälten, die sich z.T. vermittelnd in das zwischen Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern und Polizeibeamtinnen und -beamten wogende Geschehen einmischten.

In aller Regel dürfen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bürgerinnen und Bürgern anläßlich einer Demonstration nicht aus dem demonstrativen Geschehen und den darauf bezogenen Aktionen und Re-Aktionen der Polizei beurteilt werden. Man muß die Voreinstimmungen kennen, wie sie in Äußerungen von Vertretern staatlicher Institutionen, von Politikern, von Polizeiverantwortlichen, von seiten derjenigen, die zur Demonstration aufgerufen haben, von Kommentaren u.s.w. kenntlich werden. Man muß darüber hinaus wissen, worum es den Demonstrierenden geht und wie es zu dem Ereignis, dem Vorfall, dem Ärgernis oder dem Problem, um dessetwillen demonstriert wird, gekommen ist. Die Unmittelbarkeit demonstrativen Geschehens kann also nur zureichend beobachtet und beurteilt werden, wenn auch der mittelbare Kontext bekannt ist und sozusagen in den beobachtenden Blick, in die Dioptrienzahl der beobachtenden Brille miteingehen kann. Gerade angesichts gewalthafter Vorfälle im Umkreis von Demonstrationen wird die konstitutive Bedeutung des vermittelnden Kontextes bis hin zu rechtlichen Einstimmungen und speziellen Verboten oder Begrenzungen von Demonstrationen durch sog. Allgemeinverfügungen oft vergessen oder unterschlagen. Dies führt zu verzerrten Wahrnehmungen der Ereignisse und zu falschen Beurteilungen.

Demonstrative Definitionsmacht der Politik

Gerade in Sachen 'CASTOR' ist es besonders wichtig, das vorausgehende Geschehen und die vorausgehenden Versäumnisse um das atomare Endlager Gorleben zu bedenken. Zur unmittelbaren Interaktion und Auseinandersetzung zwischen Demonstrierenden und der Polizei/den Polizeien kam es nur, weil die politische Auseinandersetzung um die strittige Frage 'Atomenergie ja oder nein' und in deren Konsequenz 'Zwischen-' bzw. später 'Endlagerung' von strahlungskräftigem Atommüll 'ja oder nein' zu keinem Zeitpunkt ausreichend geführt worden ist. Die Debatte ist repräsentativ einseitig abgebrochen worden.

Vor allem die zuständige Bundesregierung drückte den Transport rechtlich gesichert durch, ohne ihre politisch-demokratische Pflicht zu bedenken geschweige denn ihr zu genügen und sich mit einer beträchtlichen Minderheit der Bevölkerung, nicht zuletzt im betroffenen Bezirk Lüneburg, mit langem zeitlichem Atem ausreichend auseinander- und das heißt argumentativ überzeugend zusammenzusetzen. Ein weiteres Moratorium hätte kein Risiko in sich geborgen. Die demokratische Kunst der Langsamkeit hätte geübt werden können. Der 'Sachzwang Zwischenlagerung in Gorleben jetzt' ist staatlicherseits interessiert produziert worden. Er besteht in der Sache nicht. Diese Feststellung gilt, selbst dann wenn man das Argument ausläßt, daß auch die 'Sache' der Atomenergie mitnichten energiepolitisch erzwungen wird und andere, weniger umstrittene und angsterregende Varianten einer Energieversorgung der Bundesrepublik zur Verfügung stehen.
Mit anderen Worten, bei diesem dritten CASTOR-Transport ging die Bundesregierung mit Hilfe der Landesregierung Niedersachen, die wiederum Bundesgrenzschutz (BGS) und andere Länderpolizeien zu Hilfe rief, darauf aus, eine politisch einseitige Entscheidung polizeilich durchzusetzen. Statt Politik: Polizei. Somit war von vornherein klar, daß die Polizei nicht primär das Grundrecht auf Demonstration schützen und vor gewaltförmigem Ausufern bewahren sollte. Statt dessen diente sie einer politischen Demonstration des Durchsetzungsvermögens regierungsamtlicher Entscheidungen. Politisch-regierungsamtliche Demonstration durch polizeilich stellvertretende Gewalt stand so von vornherein gegen die politisch-bürgerliche Demonstration. Die Konfrontation war bewußt und gewollt angelegt.

Eigentümlichkeiten der Demonstrationsform

Das doppelt demonstrative Geschehen rund um Gorleben kann nur verstanden werden, wenn man sich die eigentümlichen Bedingungen dieses Demonstrationstyps klarmacht.
Schon Groß-Demonstrationen, an denen Tausende von Bürgerinnen und Bürgern teilnehmen, unterscheiden sich qualitativ erheblich von Demonstrationen mit einer Teilnehmerzahl weit unter der Tausenderschwelle. Sie entfalten in aller Regel eine andere Dynamik. Das je nach Demonstrationsgegenstand, Demonstrationsanlaß, Kontext, Teilnehmenden an einer Demonstration und Art von Präsenz, Auftreten und Einsatz der Polizei unterschiedlich vorhandene 'Aggressionspotential' wird - wenn überhaupt - in kleineren oder größeren Demonstrationen erfahrungsgemäß und soziologisch erklärbar anders aktualisiert.
Die Gorlebener Demonstrationen waren beiderseits Massendemonstrationen. Die teilnehmenden Polizeibeamten und -beamtinnen überwogen nicht selten die Zahl bürgerlicher Gegendemonstranten. Den ca. 30.000 eingesetzen Polizisten entsprachen insgesamt wohl ebenso viele Bürger, jedoch meist viel weniger massiert und vielerorts sogar in der Unterzahl. Die Eigenart des demonstrativen Geschehens rund um Gorleben wird indes durch folgende zusätzliche Merkmale gekennzeichnet:

  • Die Demonstration zog sich über mehrere Tage (fast eine ganze Woche) hinweg.

  • Die Demonstration fand nicht als mehr oder minder langer Zug zu einem Zielort statt, sie war vielmehr aufgesplittert in verschieden große Teildemonstrationen an unterschiedlichen Orten mit verschiedenen demonstrativen Bezugszielen. Das aber heißt, das demonstrative Geschehen muß insgesamt noch differenzierter wahrgenommen werden; ein Ablauf hier mußte mitnichten einem Ablauf dort entsprechen.

  • Der fehlenden Einheit von Zeit und Ort entsprach die nicht vorhandene Einheit der teilnehmenden Personen. So groß die Konstanz insgesamt gewesen ist, so sehr fanden andauernd Austäusche und Mischungen statt und waren die Teilnehmenden je nach Ort des demonstrativen Geschehens verschieden zusammengesetzt.

  • Die Teilnahme an den demonstrativen Akten, die sich verschiedenartig über Tage hinzogen, war durch eine merkwürdige Mischung aus Statik und Dynamik ausgezeichnet. Auf der einen Seite, ausgewiesen durch die verschiedenen Basislager nahe am Demonstrationsort, bestand Demonstrieren vor allem im Lagerleben, im Stehen oder im Sitzen am Ort. Auf der anderen Seite mußten diejenigen, die das demonstrative Geschehen insgesamt erleben wollten, dauernd 'auf Achse' sein, da die Entfernungen zwischen den demonstrativen Knotenpunkten zu Fuß nicht hätten bewältigt werden können. Hinzukommt, daß manche Demonstrationen sich entlang den Eisenbahndämmen bewegten.

  • Schließlich ist, will man die Eigenart des demonstrativen Geschehens rund um Gorleben verstehen, die lange Geschichte der Auseinandersetzungen zu bedenken.(3) Selbst der Presseinformation der Bezirksregierung Lüneburg(4) war als Anhang 'Eine kurze Chronik der letzten 20 Jahre um Gorleben' beigefügt.
Die 'Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.' ist am 2.3.77 gegründet worden, nachdem die Niedersächsische Landesregierung am 22.2.77 Gorleben als "vorläufigen Standort zur Errichtung eines Entsorgungszentrums" benannt hatte. Diese nun bald eine Generation umfassende Geschichte, in deren Verlauf viele Generationen demonstrativer Auseinandersetzungen folgten, besagt u.a., daß nirgendwo der Gegenstand des Streits bei jung und alt so bekannt ist wie dort im Wendland. Auch wenn natürlich nicht alle ortsansässigen Bürgerinnen und Bürger einer Meinung sind, so gehört Gorleben zweifelsohne zu der Gegend, wo selbst die demonstrativen Akte mehr als anderswo fischgleich im sympathisierenden Wasser der Region schwimmen. Die Traktor-Demonstrationen zahlreicher Bauern - auch dieses Mal ein Sonderereignis des demonstrativen Gesamtverlaufs - sind deshalb kein Zufall. Sie gehörten zur Eigenart der Demonstrationen auch zwischen dem 26.2. und dem 5.3.97.
Diese äußerlichen Eigenarten der Demonstration besagen insgesamt und von vornherein, daß diese sich noch weniger über einen Kamm scheren läßt, als dies bei anderen Großdemonstrationen der Fall ist. Die Art der Anlage ließ sehr verschiedenes Verhalten beider Seiten - sowohl der Demonstrierenden wie auch der Polizei - von vornherein zu.

Offenbar unvermeidliche Allgemeinverfügungen

Sogenannte Allgemeinverfügungen spielen vor und während Demonstrationen seit langem eine Rolle. Häufig werden durch solche Allgemeinverfügungen der zuständigen kommunalen oder bezirklichen Behörden bzw. Regierungen wenn nicht die Demonstrationen insgesamt verboten, so doch in ihren Routen und Orte so ein- bzw. ausgegrenzt, daß der Zweck der Demonstration nahezu aufgehoben wird. Demonstrationen leben davon, daß sie nicht nur 'Aufzüge unter freiem Himmel' darstellen, sondern daß die von ihnen gewählten Räume/Straßen/Gebäude/Orte mit dem Demonstrationsziel eng korrespondieren.
Verbote bzw. Ein-/Ausgrenzungen von Demonstrationsrouten sind dann versammlungsrechtlich zulässig, wenn konkret unmittelbare Gefahren für andere Schutzgüter drohen, vor allem für Leib und Leben der Teilnehmenden bzw. der Nicht-Teilnehmenden. Allerdings darf das Grundrecht auf Demonstration nicht pauschal außer Kraft gesetzt werden. Eine sehr genaue Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist geboten. Den Maßstab der Verhältnismäßigkeit bilden allem voran die Grundrechte - darunter das demokratisch essentielle Grundrecht auf Versammlung unter freiem Himmel. Darauf, daß pauschale Verbote ebenso unzulässig sind wie der pauschale Orts- und damit Sinnentzug von Demonstrationsrouten; darauf, daß die jeweiligen Gefahrenprognosen gut und besonnen begründet werden müssen und allemal der hohe Rang des unverkürzten Demonstrationsrechtes der Bürgerinnen und Bürger zu beachten ist; darauf hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Urteil angesichts der seinerzeit ausgesprochenen Allgemeinverfügung nachdrücklich hingewiesen.(5)
Vom dritten bis zum siebten März hatte die Bezirksregierung Lüneburg ein räumlich und zeitlich begrenztes Demonstrationsverbot erlassen. Sie tat es an Stelle des eigentlich zuständigen Landkreises Lüchow-Dannenberg, der sich weigerte, ein solches Verbot auszusprechen. "Der 100 Meter breite Korridor", in dem Demonstrationen verboten sind, so heißt es in der die amtliche Bekanntmachung der Allgemeinverfügung begleitenden Presseerkärung, "erstreckt sich auf die Bahnstrecken in Lüneburg und nach Dannenberg, die für den Transport benötigt werden, das Bahnhofsgebäude und den Bahnhofsvorplatz in Lüneburg sowie die Straßen in Lüchow-Dannenberg, über die der Transport ins Zwischenlager fahren wird. Um die Umladestation am Bahnhof Dannenberg und das Gelände der 'Brennelementelager Gorleben GmbH' gilt das Demonstrationsverbot bis zu 500 Metern".(6)
Auffällig an dieser Allgemeinverfügung ist nicht nur, daß der zuständige Landkreis sich weigerte, eine solche zu erlassen. Auffällig ist zusätzlich, daß sich die Bezirksregierung (vergleicht man diese 15seitige Allgemeinverfügung mit solchen die zuvor ergangen sind) mehr Mühe gibt, ihre Verfügung zu differenzieren und zu begründen. Immer wieder wird, wenn auch nicht überzeugend, auf die "strikte Verhältnismäßigkeit" des Verbots hingewiesen. Dieser trotz aller Kritik begrüßenswerte Versuch, die Allgemeinverfügung zu entpauschalisieren, ist vermutlich auch die Folge einer vom Verwaltungsgericht zu Lüneburg 1996 rechtskräftig aufgehobenen Allgemeinverfügung aus dem Jahr 1995. Das Verwaltungsgericht hatte seinerzeit in striktem Bezug auf das verfassungsgerichtliche Brokdorf-Urteil und die normierende Kraft der Grundrechtsnorm des Grundgesetzes die pauschale Gefahrenbehauptung der 95er Allgemeinverfügung nachträglich als nicht rechtens erkannt. Auffällig an der Allgemeinverfügung vom 24.2.97 ist schließlich, diese Feststellung gilt auch für die meisten anderen Allgemeinverfügungen, daß sie offenkundig in erster Linie präventiven Zwecken dient. Sie soll den polizeilichen Einsatzleitungen eine Blankovollmacht geben, Räumungsbefehle und ähnliches situationsabhängig und nach eigenem Gutdünken aussprechen zu können. Tatsächlich hielten sich zunächst und weithin weder die Demonstrationsteilnehmer noch die Polizei an die Allgemeinverfügung. Nur wenn eine bestimmte Situation gegeben war, griff die Polizei auf die Allgemeinverfügung i.S. einer pauschalen Ermächtigung zurück. Insofern diente die Allgemeinverfügungen in Gorleben dazu, das Opportunitätsprinzip praktisch kräftig auszuweiten.

Aus den eingangs genannten Gründen diente der Polizeieinsatz von vornherein dazu, nicht das grundgesetztlich verbürgte Recht auf Demonstrationsfreiheit zu schützen, sondern eine einseitige (formal korrekt zustandegekommene) politische Entscheidung mit polizeilichen Mitteln durchzusetzen. Aus dieser Voraussetzung erwuchs der schiefe Gesamteinsatz der Polizei.
Betrachtet man den Einsatz des BGS, der als Bahnpolizei und faktische Bundespolizei präsent war, und den Einsatz der diversen Länderpolizeien, so ist festzustellen, daß eine polizeilich inszenierte 'Schlacht' nicht stattgefunden hat. Die dem Demonstrationsrecht entgegenstehende Durchsetzungsaufgabe der Polizei führte jedoch dazu, daß in zunehmendem Maße Polizeigewalt über die gewaltige Präsenz der Polizei hinaus aktiv eingesetzt wurde und zwar nach Maßgabe der sich zuspitzenden demonstrationswidrigen Aufgabe, den CASTOR-Transport, komme, was da wolle, erfolgreich zu beenden, notfalls durchzuprügeln. Das von der Polizei vor allem in der Nacht vom vierten auf den fünften März grob verletzte Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel erklärt sich auch diesem Umstand. Ohne einzelne polizeiliche Übergriffe, unnötige Grobheiten und Prügeleien einzelner Polizisten verharmlosen zu wollen, ist jedoch am Primat der politischen Verantwortlichkeit für den Verstoß gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und gegen das Demonstrationsrecht festzuhalten. Dieses Primat steht hier eindeutig über der gleichwohl vorhandenen polizeilichen Verantwortung.

Gewaltfreiheit der Demonstrierenden bildete das überragende Signum

Wer die Nacht vom vierten auf den fünften März am Verladebahnhof Dannenberg zugebracht hat, wird sich des geradezu überwältigenden Eindrucks gewaltfreier Demonstration nicht erwehren können. Das war in der Tat eine Demonstration der Gewaltfreiheit sondergleichen.
Dieser dominierende Eindruck am Höhe- und zugleich auch polizeilich gesetzten Endpunkt der Demonstration ist durch die vorherigen Tage vorbereitet worden. Die vielen Hunderte, die den Aufruf 'X-tausendmal quer' unterschrieben haben und ihm noch viel umfangreicher demonstrierend gefolgt sind, haben sich an die von der Bürgerinitiative ausgegebene Devise der prinzipiellen und nicht taktischen Gewaltfreiheit strikt gehalten. Dieser Haupteindruck wird nicht dadurch korrigiert, daß es an anderen Orten im Demonstrationsraum zu Scharmützeln zwischen Polizeibeamten/-beamtinnen und Teilnehmenden der Demonstration, etwa bei Quickborn, gekommen ist, wo Übergriffe in Form von Erdklumpen- und Steinwürfen u.ä. auch von Demonstrierenden ausgingen. Allerdings hielten sich auch dort die gewaltförmigen Auseinandersetzungen in Grenzen. Vor allem: Die Polizeien wurden z.T. so eingesetzt, daß sie Aggressionen unnötig erzeugten bzw. ihrerseits Teilnehmende an Demonstrationen verletzten. Die Einkesselung einer Gruppe von Demonstrierenden im Wald von Quickborn ist dafür ein beredtes Beispiel.

Ein Sonderproblem ist zusätzlich zu nennen, soweit es einen Teil der Demonstrierenden angeht, das Problem der Sachbeschädigungen. Immer erneut wurde versucht, eine Route durch demonstrative Wühlarbeit so zu zerstören, daß sie nicht mehr befahren werden konnte. Abgesehen davon, daß andere Strecken zur Verfügung standen, kommt in dieser Zerstörung - keiner Gewalt, die kann nur gegen Personen geübt werden, wohl aber Sachbeschädigung - die Absicht mancher Demonstrationsteilnehmer zum Ausdruck, nicht nur gegen den CASTOR-Transport zu demonstrieren, nicht nur dessen polizeilich-politische Kosten hochzutreiben, um zukünftige Transporte möglichst von vornherein absagen zu lassen, sondern auch eine spezifische formell rechtliche Handlung mit Hilfe von sachlichen Zerstörungen zu verhindern. Insofern überschreiten diese Demonstrationsteilnehmer die weiten Grenzen des Demonstrationsrechts. Dieses nicht strafrechtlich zu ahndende Überschreiten kann jedoch nicht dazu herhalten, seinerseits zu legitimieren, daß das aktuelle Recht der Demonstration, rund um Gorleben allgemeinverfügend vorab eingeschränkt werden dürfe - von der weitgehenden polizeilichen Duldung aus Opportunitätsgründen zu schweigen.

Chance als Bürgerpolizei versäumt

Polizeibeamtinnen und -beamte begannen kurz nach der Geisterstunde am fünften März 1997 damit, den Transportweg des verladenen CASTOR von sitzend-liegenden Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern freizutragen und Nachdrängende durch eine dicht aufschließende Polizeikette am (Wieder-)Hinsitzen zu hindern. Diese tragschwere Arbeit schritt mählich, jedoch allmählich voran. Ungeduld über den langsamen Fortschritt und möglicherweise auch andere Erwägungen brachten die polizeiliche Einsatzleitung dazu, in den Morgenstunden ihre Wasserwerfer einzusetzen. Zunächst freilich noch so, daß die durchnäßten Demonstranten nicht durch Druck weggespült, sondern nach wie vor weggetragen werden mußten. Schon dieser Wasserwerfereinsatz war selbst polizeitaktisch gesehen unnötig. Noch unnötiger und wider alle polizeilichen Pflichten des Grundrechts- und vor allem des Bürgerschutzes waren die physischen Gewaltakte bis hin zu Schlagstockeinsätzen. Gegen 10 Uhr rückten plötzlich mit massivem Wasserwerfer-, Rempel-, Faustschlag- und Schlagstockeinsatz vor allem Berliner Polizeieinheiten vor, so daß nun die gewaltfrei Blockierenden von beiden Richtungen aus weggeräumt, weggeschubst, weggedrängt und weggeschlagen wurden.
Dieses ca. 10stündige Geschehen ist hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, daß sich die Polizei - aus welchen 'höheren' Erwägungen auch immer - hier einen Bärendienst leistete. Es wäre durchaus - und insgesamt nicht qualitativ zeitaufwendiger - möglich gewesen, mit dem geringst nötigen Gewaltaufwand die Demonstrierenden wegzutragen. Auch eine bürgerlich demokratisch orientierte Polizei braucht Zeit.

Gerade in der Nacht vom vierten auf den fünften März und am Morgen des fünften März fiel auf, wie wenig sich die polizeiliche Einsatzleitung selbst um das physische Wohl ihrer eigenen Beamtinnen und Beamten kümmerte. Wenn nicht aller Augenschein und manches Gespräch, manche zusätzliche Information trügen, dann wurden die Beamtinnen und Beamten viel zu selten ausgewechselt. Vor allem, sie wurden auch mit Essen und Getränken viel zu wenig versorgt, so daß ihre Müdigkeit und Aggressivität individuell und kollektiv unvermeidlich wachsen mußte. Gespräche mit Polizeibeamten, Nachfragen bei Einsatzleitern u.ä.m. machten auch klar, daß sich nicht wenige der Polizisten politisch 'verheizt' fühlten. Zudem ergaben diese Gespräche, daß die 'linke Hand oft nicht wußte, was die rechte tat'. Sprich, im Gewürfel der Länderpolizeien entstand nicht selten ein Informationschaos bis hinauf zu den Einsatzleitungen, ganz abgesehen davon, daß die 'einfachen' Polizeibeamten offenkundig z.T. unzureichend informiert worden waren.

CASTOR-Transporte sind nur noch polizeilich durchsetzbar

Diese Aussage ist als eine Art Resümee, als die Quintessenz dieser Demonstrationen zu verstehen. Sie bedarf nach all dem zuvor Gesagten und Beschriebenen keiner weiteren Begründung mehr. Die politisch negativen Effekte, antibürgerlich und unter vielerlei Verletzungen des Demonstrationsrechts durchgeprügelt, sind ungleich höher zu veranschlagen als die, bis zu 100 Mio. DM hochgerechneten,(7) beträchtlichen finanziellen Ausgaben, die notwendig sind, um Polizei so massenhaft einsetzen zu können, daß diese ihrerseits eine Großdemonstration quantitativ überragt und allpräsent zu blokkieren vermag. Mit dem Grundrecht auf Demonstration hat solches politische Verhalten ebensowenig zu tun wie mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung - so diese Adjektive noch Aussagekraft besitzen. 


Wolf-Dieter Narr lehrt Politologie an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP; Mitglied des 'Komitee für Grundrechte und Demokratie'
 
Anmerkungen
(1) Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.), Mit Staatsgewalt gegen Bürgerinnen und Bürger. Der 3. CASTOR-Transport, erscheint Ende Juni 1997
(2) Kritzkoleit, P./Wolters, H.-J. (Hg.), Berichte von Pastorinnen und Pastoren in Lüchow-Dannenberg zum Atommülltransport im März 1997
(3) Siehe: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 6 (2/80), S. 20ff.; Rucht, D., Von Whyl nach Gorleben. Bürger gegen Atomraketen und nukleare Entsorgung, München 1980; die tageszeitung v. 21.6.80 (Gorleben Dokumentation); Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (Hg.), 5 Jahre Gorleben. Beispiele politischer Gewalt gegen Bürger, 1982
(4) Presseerklärung v. 26.2.97
(5) BerVerfG, Beschluß v. 14.5.85, Az: 1 BvR 233/81 u. 1 BvR 341/81
(6) Presseerklärung v. 24.2.97
(7) Der Spiegel v. 3.3.97, Frankfurter Rundschau v. 12.3.97

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HTML-Auszeichnung: Martina Kant - 17.06.1997