Bürgerrechte & Polizei/CILIP 56 (1/97) | |
Der CASTOR-Transport 1997
- Demonstrationen und Polizeieinsätze |
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von Wolf-Dieter Narr
Das 'Komitee für Grundrechte und Demokratie' hat mit mindestens einem Dutzend Teilnehmenden den dialektischen Prozeß zwischen Castor-Transport, Polizei und Demonstrierenden vom 28.2. bis zum 5.3.97 beobachtet.(1) Über deren Beobachtungen hinaus stützt sich die folgende Analyse auf Presseerklärungen des Direktors der Polizei bei der Bezirksregierung Lüneburg; auf die Presseberichterstattung während des einschlägigen Zeitraums; auf Berichte von Pastorinnen und Pastoren in Lüchow-Dannenberg(2) und auf Beobachtungen und Auskünfte von Anwältinnen und Anwälten, die sich z.T. vermittelnd in das zwischen Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern und Polizeibeamtinnen und -beamten wogende Geschehen einmischten. In aller Regel dürfen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bürgerinnen und Bürgern anläßlich einer Demonstration nicht aus dem demonstrativen Geschehen und den darauf bezogenen Aktionen und Re-Aktionen der Polizei beurteilt werden. Man muß die Voreinstimmungen kennen, wie sie in Äußerungen von Vertretern staatlicher Institutionen, von Politikern, von Polizeiverantwortlichen, von seiten derjenigen, die zur Demonstration aufgerufen haben, von Kommentaren u.s.w. kenntlich werden. Man muß darüber hinaus wissen, worum es den Demonstrierenden geht und wie es zu dem Ereignis, dem Vorfall, dem Ärgernis oder dem Problem, um dessetwillen demonstriert wird, gekommen ist. Die Unmittelbarkeit demonstrativen Geschehens kann also nur zureichend beobachtet und beurteilt werden, wenn auch der mittelbare Kontext bekannt ist und sozusagen in den beobachtenden Blick, in die Dioptrienzahl der beobachtenden Brille miteingehen kann. Gerade angesichts gewalthafter Vorfälle im Umkreis von Demonstrationen wird die konstitutive Bedeutung des vermittelnden Kontextes bis hin zu rechtlichen Einstimmungen und speziellen Verboten oder Begrenzungen von Demonstrationen durch sog. Allgemeinverfügungen oft vergessen oder unterschlagen. Dies führt zu verzerrten Wahrnehmungen der Ereignisse und zu falschen Beurteilungen. Demonstrative Definitionsmacht der Politik Gerade in Sachen 'CASTOR' ist es besonders wichtig, das vorausgehende Geschehen und die vorausgehenden Versäumnisse um das atomare Endlager Gorleben zu bedenken. Zur unmittelbaren Interaktion und Auseinandersetzung zwischen Demonstrierenden und der Polizei/den Polizeien kam es nur, weil die politische Auseinandersetzung um die strittige Frage 'Atomenergie ja oder nein' und in deren Konsequenz 'Zwischen-' bzw. später 'Endlagerung' von strahlungskräftigem Atommüll 'ja oder nein' zu keinem Zeitpunkt ausreichend geführt worden ist. Die Debatte ist repräsentativ einseitig abgebrochen worden.
Vor allem die zuständige Bundesregierung drückte
den Transport rechtlich gesichert durch, ohne ihre
politisch-demokratische Pflicht zu bedenken geschweige
denn ihr zu genügen und sich mit einer beträchtlichen
Minderheit der Bevölkerung, nicht zuletzt im betroffenen
Bezirk Lüneburg, mit langem zeitlichem Atem ausreichend
auseinander- und das heißt argumentativ überzeugend
zusammenzusetzen. Ein weiteres Moratorium hätte
kein Risiko in sich geborgen. Die demokratische Kunst
der Langsamkeit hätte geübt werden können.
Der 'Sachzwang Zwischenlagerung in Gorleben jetzt'
ist staatlicherseits interessiert produziert worden.
Er besteht in der Sache nicht. Diese Feststellung gilt,
selbst dann wenn man das Argument ausläßt,
daß auch die 'Sache' der Atomenergie mitnichten
energiepolitisch erzwungen wird und andere, weniger
umstrittene und angsterregende Varianten einer Energieversorgung
der Bundesrepublik zur Verfügung stehen. Eigentümlichkeiten der Demonstrationsform
Das doppelt demonstrative Geschehen rund um Gorleben
kann nur verstanden werden, wenn man sich die eigentümlichen
Bedingungen dieses Demonstrationstyps klarmacht.
Diese äußerlichen Eigenarten der Demonstration besagen insgesamt und von vornherein, daß diese sich noch weniger über einen Kamm scheren läßt, als dies bei anderen Großdemonstrationen der Fall ist. Die Art der Anlage ließ sehr verschiedenes Verhalten beider Seiten - sowohl der Demonstrierenden wie auch der Polizei - von vornherein zu. Offenbar unvermeidliche Allgemeinverfügungen
Sogenannte Allgemeinverfügungen spielen vor und
während Demonstrationen seit langem eine Rolle.
Häufig werden durch solche Allgemeinverfügungen
der zuständigen kommunalen oder bezirklichen Behörden
bzw. Regierungen wenn nicht die Demonstrationen insgesamt
verboten, so doch in ihren Routen und Orte so ein-
bzw. ausgegrenzt, daß der Zweck der Demonstration
nahezu aufgehoben wird. Demonstrationen leben davon,
daß sie nicht nur 'Aufzüge unter freiem
Himmel' darstellen, sondern daß die von ihnen
gewählten Räume/Straßen/Gebäude/Orte
mit dem Demonstrationsziel eng korrespondieren.
Aus den eingangs genannten Gründen diente der Polizeieinsatz
von vornherein dazu, nicht das grundgesetztlich verbürgte
Recht auf Demonstrationsfreiheit zu schützen,
sondern eine einseitige (formal korrekt zustandegekommene)
politische Entscheidung mit polizeilichen Mitteln durchzusetzen.
Aus dieser Voraussetzung erwuchs der schiefe Gesamteinsatz
der Polizei. Gewaltfreiheit der Demonstrierenden bildete das überragende Signum
Wer die Nacht vom vierten auf den fünften März
am Verladebahnhof Dannenberg zugebracht hat, wird
sich des geradezu überwältigenden Eindrucks
gewaltfreier Demonstration nicht erwehren können.
Das war in der Tat eine Demonstration der Gewaltfreiheit
sondergleichen. Ein Sonderproblem ist zusätzlich zu nennen, soweit es einen Teil der Demonstrierenden angeht, das Problem der Sachbeschädigungen. Immer erneut wurde versucht, eine Route durch demonstrative Wühlarbeit so zu zerstören, daß sie nicht mehr befahren werden konnte. Abgesehen davon, daß andere Strecken zur Verfügung standen, kommt in dieser Zerstörung - keiner Gewalt, die kann nur gegen Personen geübt werden, wohl aber Sachbeschädigung - die Absicht mancher Demonstrationsteilnehmer zum Ausdruck, nicht nur gegen den CASTOR-Transport zu demonstrieren, nicht nur dessen polizeilich-politische Kosten hochzutreiben, um zukünftige Transporte möglichst von vornherein absagen zu lassen, sondern auch eine spezifische formell rechtliche Handlung mit Hilfe von sachlichen Zerstörungen zu verhindern. Insofern überschreiten diese Demonstrationsteilnehmer die weiten Grenzen des Demonstrationsrechts. Dieses nicht strafrechtlich zu ahndende Überschreiten kann jedoch nicht dazu herhalten, seinerseits zu legitimieren, daß das aktuelle Recht der Demonstration, rund um Gorleben allgemeinverfügend vorab eingeschränkt werden dürfe - von der weitgehenden polizeilichen Duldung aus Opportunitätsgründen zu schweigen. Chance als Bürgerpolizei versäumt
Polizeibeamtinnen und -beamte begannen kurz nach der
Geisterstunde am fünften März 1997 damit,
den Transportweg des verladenen CASTOR von sitzend-liegenden
Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern freizutragen
und Nachdrängende durch eine dicht aufschließende
Polizeikette am (Wieder-)Hinsitzen zu hindern. Diese
tragschwere Arbeit schritt mählich, jedoch allmählich
voran. Ungeduld über den langsamen Fortschritt
und möglicherweise auch andere Erwägungen
brachten die polizeiliche Einsatzleitung dazu, in den
Morgenstunden ihre Wasserwerfer einzusetzen. Zunächst
freilich noch so, daß die durchnäßten
Demonstranten nicht durch Druck weggespült, sondern
nach wie vor weggetragen werden mußten. Schon
dieser Wasserwerfereinsatz war selbst polizeitaktisch
gesehen unnötig. Noch unnötiger und wider
alle polizeilichen Pflichten des Grundrechts- und vor
allem des Bürgerschutzes waren die physischen
Gewaltakte bis hin zu Schlagstockeinsätzen. Gegen
10 Uhr rückten plötzlich mit massivem Wasserwerfer-,
Rempel-, Faustschlag- und Schlagstockeinsatz vor allem
Berliner Polizeieinheiten vor, so daß nun die
gewaltfrei Blockierenden von beiden Richtungen aus
weggeräumt, weggeschubst, weggedrängt und
weggeschlagen wurden. Gerade in der Nacht vom vierten auf den fünften März und am Morgen des fünften März fiel auf, wie wenig sich die polizeiliche Einsatzleitung selbst um das physische Wohl ihrer eigenen Beamtinnen und Beamten kümmerte. Wenn nicht aller Augenschein und manches Gespräch, manche zusätzliche Information trügen, dann wurden die Beamtinnen und Beamten viel zu selten ausgewechselt. Vor allem, sie wurden auch mit Essen und Getränken viel zu wenig versorgt, so daß ihre Müdigkeit und Aggressivität individuell und kollektiv unvermeidlich wachsen mußte. Gespräche mit Polizeibeamten, Nachfragen bei Einsatzleitern u.ä.m. machten auch klar, daß sich nicht wenige der Polizisten politisch 'verheizt' fühlten. Zudem ergaben diese Gespräche, daß die 'linke Hand oft nicht wußte, was die rechte tat'. Sprich, im Gewürfel der Länderpolizeien entstand nicht selten ein Informationschaos bis hinauf zu den Einsatzleitungen, ganz abgesehen davon, daß die 'einfachen' Polizeibeamten offenkundig z.T. unzureichend informiert worden waren. CASTOR-Transporte sind nur noch polizeilich durchsetzbar Diese Aussage ist als eine Art Resümee, als die Quintessenz dieser Demonstrationen zu verstehen. Sie bedarf nach all dem zuvor Gesagten und Beschriebenen keiner weiteren Begründung mehr. Die politisch negativen Effekte, antibürgerlich und unter vielerlei Verletzungen des Demonstrationsrechts durchgeprügelt, sind ungleich höher zu veranschlagen als die, bis zu 100 Mio. DM hochgerechneten,(7) beträchtlichen finanziellen Ausgaben, die notwendig sind, um Polizei so massenhaft einsetzen zu können, daß diese ihrerseits eine Großdemonstration quantitativ überragt und allpräsent zu blokkieren vermag. Mit dem Grundrecht auf Demonstration hat solches politische Verhalten ebensowenig zu tun wie mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung - so diese Adjektive noch Aussagekraft besitzen.
Wolf-Dieter Narr lehrt Politologie an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP; Mitglied des 'Komitee für Grundrechte und Demokratie' |
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Anmerkungen |
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(1) | Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.), Mit Staatsgewalt gegen Bürgerinnen und Bürger. Der 3. CASTOR-Transport, erscheint Ende Juni 1997 |
(2) | Kritzkoleit, P./Wolters, H.-J. (Hg.), Berichte von Pastorinnen und Pastoren in Lüchow-Dannenberg zum Atommülltransport im März 1997 |
(3) | Siehe: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 6 (2/80), S. 20ff.; Rucht, D., Von Whyl nach Gorleben. Bürger gegen Atomraketen und nukleare Entsorgung, München 1980; die tageszeitung v. 21.6.80 (Gorleben Dokumentation); Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (Hg.), 5 Jahre Gorleben. Beispiele politischer Gewalt gegen Bürger, 1982 |
(4) | Presseerklärung v. 26.2.97 |
(5) | BerVerfG, Beschluß v. 14.5.85, Az: 1 BvR 233/81 u. 1 BvR 341/81 |
(6) | Presseerklärung v. 24.2.97 |
(7) | Der Spiegel v. 3.3.97, Frankfurter Rundschau v. 12.3.97 |
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1997 HTML-Auszeichnung: Martina Kant - 17.06.1997 |