CILIP Bürgerrechte & Polizei/CILIP 57 (2/97)

Die Interessen der Opfer

- Opferschutz und 'Täter-Opfer-Ausgleich'


 
von Otto Diederichs
 
Traditionell gilt dem Täter die staatliche Aufmerksamkeit: Strafe und Strafandrohung sollen normkonformem Verhalten den nötigen Nachdruck verleihen; der Staat verspricht Schutz, indem er Stärke gegenüber Rechtsbrechern demonstriert. Hinter dem staatlichen Strafanspruch treten die Interessen der unmittelbaren Opfer meist in den Hintergrund.

Um die Position von Gewaltopfern zu verbessern, wurde vor rund 20 Jahren das 'Opferentschädigungsgesetz' (OEG) geschaffen (zuletzt geändert im Juli 1993). Um die Stellung von Verbrechensopfern im Strafverfahren zu stärken, trat im Dezember 1986 das 'Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren' (sog. Opferschutzgesetz) in Kraft. Während im Strafverfahren auf diese Weise zumindest das Instrument der Nebenklage breiter genutzt wird, ist das OEG immer noch weithin unbekannt.(1) An diesem Umstand hat allem Anschein nach selbst die traurige Debatte um die Ausdehnung des OEG auf ausländische Gewaltopfer in der Folge der rechtsradikalen Anschläge von Mölln und Solingen nichts geändert. Nach wie vor läßt der gesellschaftliche Umgang mit Kriminalitätsopfern im allgemeinen zu wünschen übrig.

Mehr Sensibilität

Bei Polizei und Justiz stehen traditionell in erster Linie die Täter im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichwohl soll nicht vergessen werden, daß es hier durchaus Initiativen gegeben hat (und gibt), den unmittelbar in kriminelles Geschehen Involvierten angemessener als gemeinhin im polizeilichen Alltag üblich zu begegnen: 1979 bspw. richtete die Polizei in Hannover das 'Präventionsprogramm Polizei/Sozialarbeiter' (PPS) ein.(2) Das Projekt, das anfangs zur unmittelbaren Betreuung vergewaltigter Frauen durch Sozialarbeiterinnen geschaffen worden war, sollte zunächst auch auf Jugendliche (auch straffällige) ausgedehnt werden. Damit wäre das Projekt beinahe gescheitert, da weder die neue 'Klientel' noch die SozialarbeiterInnen dies richtig annahmen, da sie die Nähe zur Polizei fürchteten.(3) Nach einer dreijährigen Modellphase wurde PPS 1982 zur Dauereinrichtung und kümmert sich in erster Linie um Krisenintervention bei gewalttätigen Familienauseinandersetzungen u.ä..(4) Polizeilicher Mangel an Sensibilität (die PPS-Räume sind direkt in einem Polizeirevier eingerichtet) ist so häufig der Grund für ein Scheitern ursprünglich gutgemeinter Versuche, den Umgang der Polizei mit ihrer 'Kundschaft' zu verbessern. Für die Justiz gilt nichts anderes.
Dabei wäre ein verbesserter Umgang mit Kriminalitätsopfern bereits mit geringem Aufwand zu erreichen: Es beginnt mit den unumgänglichen Befragungen/Vernehmungen der Geschädigten oder Opfer. Mehrfachvernehmungen stellen hier z.B. bereits eine große Belastung dar. Von polizeilicher Seite wären also Strukturen zu schaffen, um Befragungen/Vernehmungen auf das notwendige Minimum zu beschränken und insbesondere die Opfer von Gewaltdelikten direkt von den zuständigen Fachdezernaten befragen oder vernehmen zu lassen, damit das Opfer es mit so wenig SachbearbeiterInnen wie möglich zu tun hat. Einzig nötig hierzu wäre die Einrichtung entsprechender Bereitschaftsdienste. Bei der Spurensicherung sollten die Beamten stets daran denken, das Eigentum der Geschädigten so wenig wie irgend möglich zu beschädigen oder zu zerstören. Dort wo dies u.U. unumgänglich ist, sind die Betroffenen zuvor ausführlich über die Notwendigkeit zu informieren. Spurensicherungen am Körper eines Opfers sollten möglichst von einem Arzt durchgeführt werden (in jedem Falle sollte er anwesend sein). Handelt es sich um Sachverhalte der Bagatell- und Kleinkriminalität, so könnten diese durch Verwaltungsvereinfachungen schneller und sinnvoller geregelt werden. Damit wäre sowohl den Geschädigten wie auch den BeamtInnen gedient.

Ähnliches gilt für die Situation bei der Staatsanwaltschaft: Bei der derzeit üblichen Ermittlungspraxis wird sie zumeist erst nach Abschluß der polizeilichen Ermittlungen mit den Sachverhalten befaßt und hat mit den unmittelbar Geschehensbeteiligten häufig keinen Kontakt. Das Ergebnis sind Anklagen 'nach Aktenlage'; eine Einfühlung in die psychische Situation des Opfers muß dabei fast zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Dies um so mehr, wenn ein Staatsanwalt die Anklage vertritt, der nicht einmal die Anklageschrift verfaßt hat und erst kurz vor der Hauptverhandlung mit dem Fall konfrontiert wurde. Durch einfache organisatorische Änderungen im Verfahrensablauf ließen sich hier wesentliche Verbesserungen erreichen.
Der aus Sicht eines Opfers häufig unangemessene Umgang mit der Tat setzt sich dann im Gerichtssaal fort - angefangen bei langen Wartezeiten auf unbequemen Holzbänken bis hin zu möglicherweise demütigenden Befragungen durch den Richter.(5) Zum besseren Schutz geschädigter Kinder ist seit 1995 die Möglichkeit einer videoaufgezeichneten Aussage außerhalb der Hauptverhandlung möglich;(6) dieses (grundsätzlich richtige) Anliegen hat sich der Bundesrat im letzten Jahr zueigen gemacht und auf der Grundlage eines gemeinsamen Gesetzesantrages aller Länder einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen.(7) Eine solche Zeugenaussage stellt ohne jeden Zweifel einen schweren Eingriff in die Verteidigerrechte dar und sollte deshalb nur in zwingenden Ausnahmefällen möglich sein. Gleichwohl muß man sich darüber im klaren sein, daß ein Opferschutz (auch im Sinne des Opferschutzgesetzes), wenn er tatsächlich wirksam sein soll, "ohne eine Verkürzung der Beschuldigtenposition ausgeschlossen (ist). Nur wer diese Verschiebung im Parallelogramm der Kräfte im Verfahren akzeptiert, wird die Diskussion über sogenannte Opferrechte vorurteilsfrei führen können."(8) Der Zielkonflikt Opferschutz einerseits - fairer Strafprozeß andererseits darf bei der Diskussion nicht aus den Augen verloren werden.
Opferschutz und Opferhilfe können und sollten jedoch bereits im Vorfeld eines (evtl. unumgänglichen) Strafprozesses einsetzen. In diesem Bereich gälte es, neben den bestehenden Selbsthilfegruppen (z. B. für vergewaltigte Frauen) staatliche oder zumindest staatlich geförderte Beratungsstellen einzurichten: Solche Beratungsstellen müßten "in der Lage sein, ihre Unterstützung den Opfern so früh wie möglich anzubieten (...) müssen kurzfristig und möglichst durchgehend erreichbar sein, zum Beispiel durch Schaffung eines einheitlichen Opfernotrufs (...). Die Schwere der Tatfolgen für Opfer von Sexual- und Gewaltdelikten erfordert es, die Beratung durch professionelle Berufsgruppen (Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter) zu vermitteln und selbst anzubieten. Solche Opferberatungsstellen müssen auch (...) beraten können, bevor eine Anzeige bei der Polizei erstattet worden ist, und dabei gemeinsam mit dem Opfer nach sinnvollen Konflikterledigungen suchen. Die Polizei wiederum muß die Gelegenheit bekommen, sofort - wo notwendig - die Opfer an die Beratungsstellen weiterzuleiten."(9)

Täter-Opfer-Ausgleich (TOA)

Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen: Sinnvolle Konflikterledigung zwischen den streitenden Parteien; wo immer möglich, außerhalb staatlicher Strafverfolgung. Als einzig positive Neuerung hat diese Möglichkeit mit dem 'Verbrechensbekämpfungsgesetz' vom Dezember 1994 als 'Täter-Opfer-Ausgleich' (TOA) Eingang in die Strafprozeßordnung (§ 46a) gefunden. Gänzlich neu ist der Gedanke nicht - letztlich handelt es sich um die Fortführung des preußischen 'Schiedsmannswesen', das in der Bundesrepublik 1953 wieder eingeführt wurde. Grundgedanke war und ist, Streitigkeiten unterhalb der prozessualen Ebene zu lösen. Das Berliner Schiedsamtsgesetz wurde im Frühjahr 1994 dahingehend geändert, daß auch strafrechtlich relevante Tatbestände wie Beleidigung, Hausfriedensbruch, leichte und gefährliche Körperverletzung, Bedrohung, Sachbeschädigung und Verletzung des Briefgeheimnisses und auch zivilrechtliche Ansprüche, z.B. auf Schadensersatz, Schmerzensgeld etc. (ausgenommen Diebstahl), geschlichtet werden können.(10) Im Herbst 1994 erhielt auch Hessen ein neues Schiedsamtsgesetz.(11) Die Erfolgsquote der Schiedsleute liegt bundesweit bei rund 50 Prozent.(12) Da einmal geschlichtete Fälle nicht mehr verhandelt werden, sondern ein für allemal erledigt sind, trägt das Schiedsverfahren zudem zur Justizentlastung bei.
Auch innerhalb justizieller Verfahren ist der 'Täter-Opfer-Ausgleich' nicht neu. Bereits seit Mitte der 80er Jahre ist er im Jugendstrafrecht verankert. Anfang 1993 ging das Bonner 'TOA-Service-Büro' von bundesweit ca. 300 vergleichbaren Einrichtungen aus.(13) Neu ist an der seit 1994 geltenden Regelung lediglich, daß der TOA seither grundsätzlich auch im Erwachsenenstrafrecht angewandt werden kann. Ausnahmen hatte es zwar schon vorher gegeben,(14) allerdings eher als Modellversuche.(15) Ein landesweites TOA-Programm haben neben Schleswig-Holstein bisher lediglich Brandenburg (1992)(16), Sachsen (1994)(17) und Sachsen-Anhalt (1995)(18) eingeführt.
Delikte, die (neben Jugendstraftaten) vorrangig als TOA-geeignet gelten, sind Körperverletzungen, Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Eigentumsdelikte und Hausfriedensbruch (Als ungeeignet hat er sich indes bei Fällen von häuslicher Gewalt gegen Frauen erwiesen). Das ist der gleiche Bereich, der auch von den Schiedsämtern abgedeckt werden soll. Beiden Institutionen gleich ist auch die freiwillige Bereitschaft zur Schlichtung/zum Ausgleich.

Der Einsatz von geschulten Kräften (z.B. SozialarbeiterInnen), wie beim TOA vorgesehen, scheint auf den ersten Blick gegenüber der ehrenamtlichen Tätigkeit von Schiedsleuten durchaus vernünftig. Während ein Schiedsspruch endgültig ist und die Fälle anschließend nicht mehr verhandelt werden dürfen, gilt dies für eine TOA-Maßnahme nicht unbedingt. Hier besteht durchaus noch die Möglichkeit, zusätzlich ein Verfahren anzustrengen. Vorherige erfolgreiche TOA-Maßnahmen haben dann lediglich strafmildernde Konsequenzen. Dem Täter-Opfer-Ausgleich als einer außergerichtlichen Form der Konfliktlösung ist, wo immer möglich, der Vorrang vor justizieller Abstrafung zu geben. Dennoch sind auch bei dieser Maßnahme weitere Elemente zur Stärkung des Verfahrens denkbar; in jedem Fall sollte die Schiedsamtsregelung der endgültigen Erledigung in das TOA-Verfahren übernommen werden.

Opfer-Orientierung

Die Begründungen der strafenden Kriminalpolitik sind empirisch wenig überzeugend. Die generalpräventiven Wirkungen werden durch jede Normverletzung in Frage gestellt. Statt einzelne von weiteren Taten abzuhalten, stellt sie durch das Gefängnissystem günstige Sozialisationsbedingungen für kriminelle Karrieren bereit. Statt die (vermeintlichen) Interessen von Kriminalitätsopfern zur Legitimierung von neuen Kriminalisierungen zu nutzen, entspricht es den Grundzügen einer demokratischen Kriminalpolitik, sowohl das Repertoire verfahrensmäßiger, institutioneller und materieller Hilfen für Kriminalitätsopfer auszubauen und den Anwendungsbereich nicht strafrechtlicher Sanktionen möglichst weit auszudehnen. Die Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens und seiner Folgen dürfte für den Verursacher in der Regel genug Strafe sein. Ein über die Interessen der jeweiligen Opfer hinausgehender staatlicher Strafanspruch muß auf schwere Delikte beschränkt werden.


 
 

Otto Diederichs ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP; freier Journalist in Berlin
 
Anmerkungen
(1) Vgl. Kriminalistik 12/94, S. 781
(2) die tageszeitung v. 22.8.79; Die Polizei 12/84, S. 383
(3) die tageszeitung v. 22.8.79
(4) Neige, Ulrike, Männergewalt gegen Frauen in der Familie, Hannover 1990, S. 37ff.
(5) Ausführlich siehe: Tampe, Evelyn, Verbrechensopfer. Schutz - Beratung - Unterstützung, Stuttgart 1992, insb. S. 112ff.
(6) LG Mainz, Beschluß v. 15.5.95, Az.: 302 Js 21307/94jug 3A
(7) BR-Drs. 13/4983
(8) Schriftenreihe der Strafverteidiger-Vereinigungen, 11. Strafverteidigertag vom 8.-10. Mai 1987 Osnabrück, Landsberg 1988, S. 164f.
(9) Ch. Hohmann-Dennhardt in: SPD-Bundestagsfraktion (Hg.), Tatort Deutschland, Bonn 1994, S. 59ff.
(10) Vgl. Berliner Morgenpost v. 25.3.94
(11) Frankfurter Rundschau v. 5.9.94
(12) Frankfurter Rundschau v. 7.5.96
(13) Süddeutsche Zeitung v. 22.3.94
(14) Vgl. Strafverteidiger 1/92, S. 42/43
(15) Siehe: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.9.92, Süddeutsche Zeitung v. 25.7.95 und 9.8.95
(16) Berliner Zeitung v. 4.2.94
(17) Süddeutsche Zeitung v. 13.8.94
(18) Süddeutsche Zeitung v. 9.8.95

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HTML-Auszeichnung: Martina Kant - 05.09.1997