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Bürgerrechte & Polizei/CILIP 57 (2/97) |
| Vierzehn Thesen zur Inneren Sicherheit
- Vom eminent praktischen Sinn grundsätzlicher Überlegungen |
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| von Wolf-Dieter Narr | |
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In unsicheren Zeiten hat der 'Ruf nach Sicherheit und
Ordnung' Konjunktur. Ohne Umschweife werden dann die
Sicherheitsexperten ins Spiel gebracht: Von 'durchgreifenden
Maßnahmen' ist schnell die Rede; schärfere
Gesetze und eine Polizei, die der Unsicherheiten Herr
werden soll, werden gefordert. Diese schlichten Formeln
aus dem Standardrepertoire populistischer Politik dienen
den Interessen der Sicherheitsbürokratien. Sie
zielen auf einen die Gesellschaft überziehenden
Schleier staatlicher Sicherheitsvorkehrungen, der Sicherheit
verspricht, aber neue Unsicherheiten produziert.
Theoretische Grundlagen sind ebenso wie Begriffe oder
wie Werte nicht unmittelbar praktisch. Aus ihnen können
in der Regel keine direkten Schlußfolgerungen
in Richtung dessen gezogen werden, was zu tun sei. Was ist Sicherheit
These 1: Sicherheit, nach der die Menschen der Gegenwart
streben, besitzt eine z. T. in sich widersprüchliche
Fülle von Dimensionen. Die hauptsächliche
Schwierigkeit, Sicherheit näher zu bestimmen (Soziale
Sicherheit, Rechtssicherheit, Sicherheit vor Verbrechen
u.ä.m.), besteht darin, daß die verschiedenen
Sicherheitsdimensionen teilweise spannungsreich miteinander
zusammenhängen und aufeinander einwirken. Prinzipiell
gilt: Sicherheit gibt es in allen Sicherheitsbelangen
immer nur relativ. Ebenso prinzipiell gilt: Sicherheit
ist immer nur auf prekäre, ausgesprochen problematische
Weise zu haben.
These 2: Da es eine perfekte Sicherheit nicht gibt,
sind alle Sicherungsleistungen kategorisch begrenzt.
Gesellschaftliche Sicherheit ist eng gekoppelt mit
der Kultur einer Gesellschaft, insbesondere mit ihren
politischen und ökonomischen Produktions- und
Verteilungsformen.
These 3: Bei der Beschäftigung mit Sicherheit (als
Zustand) bzw. Sicherung (als einem dyamischen Vorgang),
soweit sie vom politischen System, dem liberaldemokratisch
verfaßten Staat ausgehen bzw. sich auf denselben
beziehen, dominiert die bürgerliche Perspektive:
Wodurch wird die Sicherheit der BürgerInnen bedroht
bzw. gewährleistet?
These 4: Wenn von bürgerlicher Sicherheit die Rede
ist, gilt ein weit gefaßter Begriff der
physisch-psychisch-intellektuellen
Integrität des Menschen als Maßstab. Die
Integrität (= Unversehrtheit) des Menschen ist
dauernd prekär: Menschen sind verletzlich. Das
ist das Signum ihres Lebens. Die Medizin etwa bleibt
deswegen dauernd gehalten abzuwägen, welche Art
des Eingriffs, d. h. der Integritätsverletzung
akzeptabel und angemessen ist, um die verletzte oder
kranke Integrität eines Menschen soweit wie möglich
wiederherzustellen. Was für die Medizin gilt,
gilt mit entsprechenden Veränderungen auch für
die Art und Weise, Menschen in der Ausübung ihrer
Grund- und Menschenrechte zu sichern. Eine ständige
Güterabwägung ist verlangt. Gerade auch weil
die rasante Entwicklung der Informationstechnologie
neue Arten der Integritätsverletzung möglich
macht. Sicherheit im Rechtsstaat
These 5: Der deutsche Begriff des Rechtsstaats leidet
bis heute weithin darunter, daß er immer noch
in seiner wilhelminischen Prägung verstanden und
gebraucht wird. Diese Feststellung gilt gerade auch
im Zusammenhang der diversen rechtlichen Netze, die
über das 'System Innerer Sicherheit' geworfen
worden sind - und mehr noch über bürgerliches
Handeln geworfen werden. These 6: Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz der 'Verhältnismäßigkeit' in einen Verfassungsrang erhoben. Dieser Grundsatz soll die jeweilige öffentliche Güterabwägung aller staatlicher Institutionen leiten, einschließlich der Instanzen der Dritten Gewalt. Das formal entleerte Rechtsstaatsverständnis wird hier allerdings oft noch übertroffen. Der gebetsmühlenhaft wiederholte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewinnt jedoch erst an urteilender, das Handeln bestimmender und Kontrolle ermöglichender Vitalität, wenn die Güterabwägung immer strikt bezogen auf das Gut der 'unmittelbar' geltenden Grund- und Menschenrechte erfolgt. Wenn also Erfordernisse der Inneren/öffentlichen Sicherheit abgewogen werden, wenn sie nicht einfach vor- oder nachdemokratisch aufgeherrscht werden, dann ist es unabdingbar, daß auf die jeweils andere Schale der Waage die unmittelbar geltenden Grund- und Menschenrechte gelegt werden. Ob ein Gesetz, eine Institution, eine Technik, eine Maßnahme Innerer Sicherheit verhältnismäßig ist, läßt sich nur kontextbezogen immer wieder neu entscheiden. These 7: Historisch und systematisch konkurrieren zwei Sicherheitsbezüge. Die Sicherheit des Staates als einer Herrschaftseinrichtung und die Sicherheit der BürgerInnen. Zwischen diesen Bezügen pendeln die Sicherheitsbegriffe, -institutionen, -legitimationen und -maßnahmen. Entgegen der historischen Entwicklung wurde der moderne Staat von Anfang an damit legitimiert, daß sein Gewaltmonopol erforderlich sei, um inneren gesellschaftlichen Frieden zu stiften und eine Gesellschaft gegenüber imperialen Ansprüchen einer anderen unabhängig zu halten. Liberaldemokratisch wurde der Abstraktion der allen bürgerlichen Einrichtungen überlegenen Staatsgewalt und damit ihrer Emanzipation von den bürgerlichen Sicherheitsinteressen dadurch ein Riegel vorzuschieben gesucht, daß Bürgerwille und Staatswille, daß Bürgersicherheit und Staatssicherheit gleichgesetzt wurden.
These 8: Der demokratische Rechtsstaat ist die institutionelle
Form, mit deren Hilfe die prinzipiell angenommene Identität
von Bürger- und Staatssicherheit gewährleistet
werden soll. Also bildet der demokratische Rechtsstaat
verfassungsrechtlich und verfassungswirklich den Maßstab,
mit dem zu messen ist, wie es mit der bürgerlichen
Sicherheit im repräsentativ-demokratisch verfaßten
Staate bestellt ist. Drei Mechanismen sind hierbei
von ausschlaggebender Bedeutung: Zum ersten die Arten
bürgerlicher bzw. repräsentativ vermittelter
Beteiligung an der staatlichen Produktion von Sicherheit.
Zum zweiten das Ausmaß und die Genauigkeit der
Verrechtlichung ineins mit den Möglichkeiten der
rechtlichen Überprüfung. Zum dritten der
Umfang bzw. die Grenzen der Öffentlichkeit. Innere Sicherheit und liberale Demokratie
These 9: Demokratisch betrachtet ist Innere/öffentliche
Sicherheit - verglichen mit anderen Politikbereichen
- besonders problematisch. These 10: Daß Innere Sicherheit liberaldemokratisch nicht konstituiert wird, daß Innere Sicherheit nur mangelhaft liberaldemokratisch kontrolliert wird (kontrollierbar ist), hat u.a. zur Folge, daß Innere Sicherheit leicht pseudo-politisch mißbraucht werden kann, um mit dem populistischen Schein von Demokratie demokratische Prozeduren und Programme auszuhebeln. Dieser Mißbrauch läßt sich am sog. Asylkompromiß und seiner rund drei Jahre beanspruchenden Herstellung belegen: Sprache wurde formiert; Begriffe wurden besetzt; Vorurteile wurden im "permanenten Appell an den inneren Schweinehund des Menschen" (Kurt Schumacher) aufgerührt. Insgesamt gilt: Der eher wachsende Sicherheitsbedarf kann von Fall zu Fall in Richtung auf Kriminalitätsängste umfunktioniert werden, im Namen der bürgerlichen Sicherheitsängste vermag dementsprechend staatssichernd in Bürgerrechte eingegriffen zu werden. Die Sicherung der Grundrechte wird somit zur Einlaßpforte, um in Grundrechte einzugreifen. Sicherheit und ihr Abbau durch die Art der Sicherung, die doch gleichzeitig im Namen der Sicherheit geschieht, werden zu einer 'self-fulfilling prophecy'. Bürgerrechtlich fundierte Reformen These 11: Angesichts struktureller und aktueller Probleme sind neue Formen der Produktion von Sicherheit und ihrer Verteilung dringend nötig. Anders drohen die gegebenen Formen der Sicherheitsproduktion zu verhindern, daß sich die liberale Demokratie prozedural und inhaltlich erneuert. Ein weites Netz von Repression, das schon im Vorfeld möglicher Handlungen ausgeworfen wird, könnte zu folgenreichem Politikersatz werden. Damit würde zugleich das einigermaßen strikte Legalitätsprinzip vollends zugunsten des Opportunitätsprinzips geschleift. Neue Formen staatlicher Sicherung verlangen im Rahmen der Polizei eine Erneuerung: Die durchgehende Bürgerbeteiligung inmitten der Sicherungsorganisationen. Dazu gehört u.a. die nur im Einzelfall einschränkbare Vermutung durchgehender Öffentlichkeit polizeilichen Handelns und polizeilicher Organisierung. Das Prinzip Öffentlichkeit ist gerade hier die Voraussetzung eines grundgesetzlichen Prinzips der Verantwortung. These 12: Jede Reform der Organsation Innerer Sicherheit muß deren gesetzliche Grundlagen einbeziehen. Dazu zählen vornehmlich das Strafgesetzbuch (StGB) und die Strafprozeßordnung (StPO); das gesamte Polizeirecht samt den in den letzten Jahren verrechtlichten Geheimdiensten; der Datenschutz vor allem dort, wo er in erster Linie als Schutz staatlicher Institutionen fungiert. Insgesamt gilt vor allem für StGB und StPO, daß diese nur hinterher liberaldemokratischen Belangen angepaßt, indes nicht von der Logik grundrechtlich/menschenrechtlich fundierter Demokratie her entwickelt worden sind. Eine Durchforstung und nicht zuletzt eine rechtlich-institutionelle Aufforstung sind längst überfällig. Überfällig sind auch eine ganze Reihe gesetzlicher Neuerungen. An erster Stelle bedarf es eines deutschen 'Freedom of Information Act', der auch für die neuere technische Entwicklung paßt. These 13: Zusammenhang und Differenz von äußerer und innerer Sicherheit sind nicht außer acht zu lassen. Insbesondere aber gilt, daß eine Demokratisierung und grund-/menschenrechtliche Fundierung Innerer Sicherheit nationalstaatlich allein nicht mehr erfolgen kann. Darum sind vor allem die europäischen Konsequenzen eines veränderten staatlichen Gewaltmonopols im Innern zu bedenken. Entscheidend hierbei ist, daß das, was als 'Europäische Sicherheit' bestimmt wird, nicht primär darin besteht, daß die nationalstaatlichen Standards erniedrigt und die ohnehin problematische Kontrolle vollends entmündigt wird. Insbesondere der Einsatz der Informationstechnologie und ihre europäische Vernetzung bedürfen neuer Rechts- und vor allem neuer institutioneller Kontrollvorkehrungen.
These 14: Jede isolierte Reform des 'Systems Innerer
Sicherheit' muß scheitern. So lange versäumte
soziale Sicherungen und infolge mangelnder demokratischer
Beteiligung aufgestaute Ängste auf die Innere
Sicherheit projeziert und von deren Apparaten ein Ausweg
erhofft wird, bleibt das ausufernde 'Projekt Innerer
Sicherheit' aktueller denn je. Die Fülle neuer,
meist mit heißer Nadel genähter Gesetze
belegt dies. Darum sind Reformen in anderen zentralen
Sicherheitsbereichen wie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
sicherheitspolitisch dringlicher denn je. Vor allem
aber ist es geboten, das Feld demokratischer Beteiligung,
angefangen beim Demonstrationsrecht, insgesamt auszudehnen
bzw. darauf zu achten, daß dieses nicht immer
erneut eingeengt wird. Sonst kann es geschehen, wie
dies gegenwärtig vielfach der Fall ist, daß
die Polizei als Büttel der herrschenden Politik
und ihres repräsentativen Absolutismus permanent
mißbraucht wird. | |
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Wolf-Dieter Narr lehrt Politologie an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP; Mitglied des 'Komitee für Grundrechte und Demokratie' |
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1997 HTML-Auszeichnung: Martina Kant - 05.09.1997 |