Bürgerrechte & Polizei/CILIP 59 (1/98) | ||
Große Koalition der Inneren Sicherheit?
Die gegenwärtige Polizeigesetzgebung der Länder |
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von Martin Kutscha | ||
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Es geht heute nicht mehr darum, den einzelnen vor dem Staat zu schützen, sondern den einzelnen vor der Organisierten Kriminalität so erklärte unlängst der SPD-Abgeordnete Otto Schily seinen heutigen (gegenüber seiner früheren Tätigkeit als Verteidiger von RAF-Mitgliedern offensichtlich gewandelten) Standpunkt.[1] Die Position Schilys entspricht nicht nur dem ständigen Credo Konservativer in Sachen Innere Sicherheit. Sie kennzeichnet auch die Haltung mancher SPD-Politiker, die sowohl bei der Zustimmung zur strafprozessualen Einführung des Lauschangriffs als auch bei den aktuellen Novellierungen der Länderpolizeigesetze ihren Ausdruck findet. Während die Debatte um die Grundgesetzänderung zum Lauschangriff allerdings auf ein breites Medienecho stieß, wird die auch anderweitig betriebene informationelle Aufrüstung der Sicherheitsbehörden durch Schaffung neuer Befugnisregelungen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Die Problematik der Legalisierung des Lauschangriffs fand Anfang
1998 endlich gebührende Aufmerksamkeit in vielen Medien.
Wir sind, konstatierte z.B. Rudolf Augstein im
Spiegel, mit dem neuen Gesetz auf dem Wege zum
Überwachungsstaat.[2] Auf parlamentarischer Ebene wurde die Kritik der
Datenschützer und Bürgerrechtsorganisationen, aber auch
der Berufsverbände von Juristen, Ärzten und Journalisten
allerdings so kleingearbeitet, daß nur bei
besonders geschützten Vertrauensverhältnissen eine
Nachbesserung versprochen wurde.[3] In den Hintergrund geriet dabei das
Kernproblem des Lauschangriffs auf Wohnungen, die Öffnung des
letzten Refugiums bürgerlicher Privatheit für die
heimliche staatliche Ausforschung im Kampf gegen das
organisierte Verbrechen. Die Warnung, jeder Lausch- Aufenthaltsverbote und Polizeigewahrsam Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ist Polizeirecht Ländersache[9]. Schon deshalb stößt die Novellierung der gesetzlichen Befugnisregelungen meist nur auf ein regional begrenztes Interesse, obwohl einzelne Landesgesetzgeber mit neuartigen Eingriffsermächtigungen nicht selten eine Vorreiterrolle für die anderen Bundesländer übernehmen. So hat die sozialdemokratische Landtagsmehrheit in Niedersachsen 1996 u.a. das neue polizeirechtliche Instrument des Aufenthaltsverbots geschaffen und damit eine scharfe Kehrtwendung gegenüber dem liberalen Impetus des Gefahrenabwehrgesetzes vollzogen, das nur zwei Jahre zuvor von der damals rot-grünen Landtagsmehrheit verabschiedet worden war.[10] Die neue Bestimmung lautet: Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, daß eine Person in einem bestimmten Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung.[11] Begründet wurde die neue Befugnis mit den Erfahrungen der Hannoveraner Chaos-Tage 1995.[12]Inzwischen will auch die Regierung Sachsens das Aufenthaltsverbot ins Polizeigesetz des Landes übernehmen. Nach dem im Januar 1998 vorgelegten Gesetzentwurf soll dieses Verbot für bis zu drei Monate verhängt werden können.[13] Damit wird der neue Charakter des Aufenthaltsverbots deutlich, das sich vom herkömmlichen, nur kurzfristig wirkenden Platzverweis grundlegend unterscheidet. Die Anwendung dieses neuen polizeirechtlichen Instruments in der Praxis kann zu einer Umgehung der speziellen Verbotsbestimmungen des Versammlungsgesetzes und damit zu einer Aushöhlung des Grundrechts der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit führen[14]. Darüber hinaus ermöglicht die neue polizeirechtliche Befugnis, ganze Innenstadtbereiche von solchen Personen zu säubern, die aufgrund irgendwelcher Anhaltspunkte wie Haartracht, Kleidung, Habitus bestimmten Szenen (Punks, Drogenabhängige, Obdachlose usw.) zugerechnet werden.[15] Vom Grundrecht der Freizügigkeit bleibt damit für die Betroffenen kaum noch etwas übrig.[16] Durch die Beseitigung störender Elemente soll offenbar ein angenehmes Ambiente für Käufer und Konsumenten geschaffen werden Innere Sicherheit ist zum Standortfaktor geworden. Die Hannoveraner Chaos-Tage dienten dem niedersächsischen Gesetzgeber 1996 auch als Legitimation für die Verlängerung der Höchstdauer des polizeilichen Gewahrsams auf vier Tage.[17] Damit schloß man sich allerdings einem Trend an, der durch die extensiven Ermächtigungen in den Polizeigesetzen Bayerns und Baden-Württembergs begründet wurde. Dort ist der polizeiliche Gewahrsam bis zu zwei Wochen zulässig.[18] Auch diese Regelungen zielen deutlich auf eine bestimmte Klientel: So ist in einem Kommentar zur bayerischen Gewahrsamsbestimmung die Rede von der Zunahme der Mobilität von Chaoten und Berufsdemonstranten, die örtlich bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen können"; dies seien ausreichende Gründe, die hier in Betracht kommenden Arten des Gewahrsams in einem deutlich erweiterten, zugleich aber strikt begrenzten Zeitraum zuzulassen.[19] Andere Bundesländer haben entsprechend nachgezogen und die Dauer des Gewahrsams in den letzten Jahren ebenfalls über die herkömmliche 48-Stunden-Höchstfrist hinaus erweitert, so Sachsen auf zwei Wochen, Thüringen auf 10 Tage und Brandenburg auf 4 Tage.[20]. Mit seiner Novelle vom 27. November 1997 hat die in Thüringen regierende Große Koalition überdies die Tatbestandsvoraussetzungen für die Verhängung des Unterbindungsgewahrsams gelockert. Sie reagierte damit auf einzelne richterliche Entscheidungen, die die Anordnung des Gewahrsams abgelehnt hatten.[21] Im Gegensatz zum allgemeinen Trend steht allerdings der Entwurf der sächsischen Regierung vom Januar 1998, wonach ein zweiwöchiger Gewahrsam nur noch zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit oder zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung zulässig sein soll. Hinter dieser Befugnisbeschränkung steht indes nicht bessere rechtspolitische Einsicht, sondern das Verdikt des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes. Dieser hat in seinem umfangreichen und auch für andere Bundesländer wichtigen Grundsatzurteil vom 14. Mai 1996 zur Gesetzesnovellierung von 1994 u.a. die weiterreichende Gewahrsamsregelung für verfassungswidrig erklärt.[22] Der Verfassungsgerichtshof trug zumindest punktuell der Kritik Rechnung, daß die Freiheitsentziehung durch längerfristigen Polizeigewahrsam bei Vorliegen verschiedenster Tatbestände schwerlich mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar ist[23]. Ferner wird in der Wissenschaft zu Recht darauf verwiesen, daß die ausufernden Gewahrsamsermächtigungen des Polizeirechts zu einer landesrechtlichen Umgehung der bundesrechtlichen Regelung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr in der Strafprozeßordnung einladen.[24] Anlaß- und verdachtsunabhängige Kontrollen (Schleierfahndung) Die Ausweitung der Eingriffsvoraussetzungen für die Identitätskontrolle durch die Polizei ist ein frappierendes Beispiel für die schrittweise Abkehr vom Störerprinzip. Nach herkömmlichem Verständnis sollen sich polizeiliche Maßnahmen nur gegen die für eine Gefahr Verantwortlichen (Störer) oder die einer Straftat Verdächtigen richten.[25] Schon seit längerem dürfen indes alle an sog. gefährlichen Orten oder an Kontrollstellen angetroffenen Personen von der Polizei kontrolliert werden. Noch einen Schritt weiter ging Bayern 1994, indem es als erstes Bundesland die verdachtsunabhängige Personenkontrolle einführte. Nach der neuen Bestimmung darf die Identität einer Person ohne weitere Voraussetzungen festgestellt werden im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km sowie auf Durchgangsstraßen (Bundesautobahnen, Europastraßen und andere Straßen von erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr) und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs zur Verhütung oder Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenze oder des unerlaubten Aufenthalts und zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität.[26] Bundesinnenminister Kanther lobte diese Befugniserweiterung als wichtigen Beitrag gegen den Ruheraum Deutschland bei grenzüberschreitender Kriminalität.[27]Andere Bundesländer haben inzwischen ebenfalls die Befugnis zur verdachtsunabhängigen Personenkontrolle geschaffen, so Baden-Württemberg 1996,[28] Thüringen 1997[29] sowie Mecklenburg-Vorpommern im Januar 1998.[30] Der Entwurf der sächsischen Regierung vom selben Monat begründet die Einführung einer solchen Ermächtigung mit den deutlichen Erfolgen in Bayern und Baden-Württemberg.[31] Am weitesten geht allerdings die Bestimmung in der zweiten Novelle zum niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz aus dem Jahre 1997: Danach kann die Polizei zur Vorsorge für die Verfolgung oder zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung mit internationalem Bezug jede im öffentlichen Verkehrsraum angetroffene Person" kurzzeitig anhalten, befragen, Ausweispapiere überprüfen sowie mitgeführte Sachen durchsuchen.[32] Praktisch kann danach jede Person, die ihre Wohnung verläßt, von der Polizei kontrolliert werden. Die einzige Voraussetzung besteht in der Intention der Polizei, Straftaten von erheblicher Bedeutung zu verhüten. Diese Voraussetzung ist rein subjektiver Art und läßt sich so gut wie immer annehmen. Damit erweist sich diese Eingriffsermächtigung als Scheintatbestand, als schrankenlose Blanko-Ermächtigung für die Polizei.[33] Während die anderen Bundesländer die Kontrollbefugnis immerhin noch auf Durchgangsstraßen bzw. auf Straßen von erheblicher Bedeutung (was dann jeweils der polizeilichen Einschätzung unterliegt) beschränken, erlaubt Niedersachsen eine praktisch voraussetzungslose Totalkontrolle.[34] In der Tat ist eine solche polizeiliche Standardbefugnis nichts anderes als eine Methode aus dem Arsenal des permanenten Ausnahmezustandes.[35] Eine Identitätskontrolle mag manchen als geringfügiger Eingriff erscheinen. Häufig beschränkt sich diese Maßnahme jedoch nicht nur auf das Einsehen des Personalausweises, sondern die kontrollierte Person wird auch mit Hilfe polizeilicher EDV-Dateien überprüft. Wer keinen Personalausweis mit sich führt, muß damit rechnen, zur Dienststelle verbracht, durchsucht und möglicherweise in Gewahrsam genommen zu werden.[36] Die Personenkontrolle kann also erhebliche Grundrechtseingriffe nach sich ziehen, auch wenn der Betroffene weder als Störer aufgefallen noch einer Straftat verdächtig ist. Lauschangriffe zur Gefahrenabwehr Zu den schwersten Eingriffen in die grundrechtlich geschützte Privatsphäre gehört der Lauschangriff,[37] in der Sprache der Polizeigesetze als Datenerhebung durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel aus Wohnungen o.ä. bezeichnet. Bei der leidenschaftlich geführten Debatte um die Jahreswende 1997/ 98 konnte der Eindruck entstehen, als würde die umstrittene Gesetzesnovellierung erstmalig den Einsatz dieses Instruments legalisieren. Dabei geht es aktuell nur um die Ergänzung der Strafprozeßordnung sowie des Art. 13 Grundgesetz, um den Lauschangriff als Mittel der Verfolgung von Straftaten einsetzen zu können. Als Mittel der Gefahrenabwehr ist er indes seit Jahren durch die Polizeigesetze der allermeisten Bundesländer zugelassen, allerdings nur unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen. Zumeist besteht die materielle Voraussetzung für den Einsatz in der Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person.[38]Inzwischen mehrt sich die Anzahl der Bundesländer, die die Tatbestandsvoraussetzungen für den Lauschangriff gelockert haben: Bayern, Sachsen, Thüringen und Rheinland-Pfalz, inzwischen auch Brandenburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben den Lauschangriff auch als Instrument zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zugelassen.[39] Damit wird wie auch bei vielen anderen in den letzten Jahren geschaffenen Vorfeld"-Befugnissen[40] die Grenze zwischen (präventiver) Gefahrenabwehr und (repressiver) Verfolgung von Straftaten verwischt. Selbst die inzwischen verabschiedete Änderung des Art. 13 Grundgesetz ist insoweit restriktiver. Sie erlaubt den Lauschangriff nur zur Verfolgung bereits begangener besonders schwerer Straftaten oder zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr.[41] Der Lauschangriff zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung ist von dieser neuen Verfassungsermächtigung nicht mehr gedeckt, die entsprechenden landesgesetzlichen Bestimmungen sind somit verfassungswidrig. Auch der sächsische Verfassungsgerichtshof hat in seinem Grundsatzurteil von 1996 festgestellt, daß im Vorfeld, d.h. beim Einsatz des Lauschangriffs zur vorbeugenden Bekämpfung der organisierten Kriminalität, eine dringende Gefahr noch gar nicht gegeben ist. Er hat deshalb die entsprechende Ermächtigung im sächsischen Polizeigesetz für unvereinbar mit der sächsischen Verfassung erklärt.[42] Die sächsische Regierung sah sich deshalb veranlaßt, in ihrem Gesetzentwurf vom Januar 1998 die Änderung dieser Bestimmung vorzuschlagen und den Lauschangriff auf bestimmte Fälle der Gefahrenabwehr zu beschränken.[43] Verdeckte Vorfeldeingriffe und der Umgang mit dem Datenschutz Bemerkenswert sind auch die Anforderungen, die der sächsische Verfassungsgerichtshof generell für gesetzliche Ermächtigungen zu Vorfeldeingriffen aufgestellt hat:Entscheidet sich der Gesetzgeber dafür, die Schwelle für polizeiliches Eingriffshandeln dergestalt abzusenken, daß er Informationsgewinnungseingriffe auch im Vorfeld einer konkreten Gefahrensituation zuläßt, so muß er im Hinblick auf den hohen Rang des informationellen Selbstbestimmungsrechts auch dafür Sorge tragen, daß die tatbestandliche Fassung der Befugnisnorm den Sicherheitsbehörden keine Blankoermächtigung erteilt. Soweit im Rahmen der Eingriffsermächtigung eine Prognose über das zukünftige Legalverhalten von Personen zu stellen ist, gebietet der Bestimmtheitsgrundsatz, daß die Eingriffsnorm so gefaßt ist, daß niemand befürchten muß, ohne hinreichende und damit für ihn vorhersehbare Anhaltspunkte und Verdachtsumstände in das Visier der Sicherheitsorgane zu geraten. Das einer Prognoseentscheidung immanente Unsicherheitspotential ist rechtsstaatlich nur hinnehmbar, wenn die Eingriffsvoraussetzungen den Geboten hinreichender Klarheit, Vorhersehbarkeit und Kontrollfähigkeit belastender Maßnahmen genügen.[44]
Diesen prägnanten Feststellungen
kommt Bedeutung auch für das Polizeirecht der anderen
Bundesländer zu, und zwar vor allem im Hinblick auf solche
informationellen Befugnisnormen, die die Polizei mit Instrumentarien
aus dem Arsenal der Geheimdienste ausstatten. Dazu gehören
nicht nur der
Ein Fazit Bei einer abschließenden Gesamtbetrachtung fällt auf, daß in den letzten Jahren vor allem die informationellen Befugnisse der Polizei ausgeweitet wurden. In der Tat spielt die Erhebung, Übermittlung und Verarbeitung personenbezogener Daten eine zentrale Rolle im sicherheitsbehördlichen Alltag.[53] Dabei tritt neben Formen der offenen Datenerhebung (z.B. durch Identitätskontrollen) mehr und mehr die heimliche Informationssammlung und -verarbeitung, von der polizeilichen Beobachtung und der Rasterfahndung bis hin zum Einsatz verdeckter Ermittler und zum Lauschangriff.[54] Mit der schrittweisen Übernahme geheimdienstlicher Methoden durch die Polizei wird nicht nur deren Kontrolle durch Gerichte und Öffentlichkeit wesentlich erschwert, es wird auch gleichsam durch die Hintertür das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten ausgehebelt.[55]Auf der anderen Seite bedeutet die Ermächtigung der Polizei zu ursprünglich geheimdienstlichen Handlungsweisen aber keine Abkehr von den klassischen Zwangsbefugnissen. Der Einsatz physischer Gewalt ist den Polizeien als Anwendung unmittelbaren Zwanges unter bestimmten Voraussetzungen seit langem gestattet. Im Bereich der klassischen Polizeibefugnisse erscheinen den Gesetzgebern denn auch bloße Detailergänzungen als ausreichend, so bei der Ausdehnung der Gewahrsamsdauer und bei der Verhängung von Aufenthaltsverboten. Der Schwerpunkt der Novellierungstätigkeit liegt dagegen bei der Ausstattung der Polizei mit neuen informationellen Kompetenzen. Auch damit gerät man freilich in einen Gegensatz zum parteiübergreifenden Postulat Weniger Staat mehr bürgerliche Freiheit.[56] Das Projekt des schlanken Staates offenbart damit seinen Januskopf: Dereguliert und liberalisiert werden nur bestimmte Bereiche staatlicher Tätigkeit (wie z.B. der profitable Telekommunikationssektor oder das Baugenehmigungsverfahren), während die Bewältigung sozialer Probleme wie Kriminalität, Drogenelend usw. einer mit uferlosen Kompetenzen ausgestatteten Polizei überantwortet wird gemäß dem US-amerikanischen Konzept des policing the poor. Auf den ersten Blick erstaunt es, daß das Maß der Befugniserweiterung nicht (mehr) davon abhängt, ob das betreffende Bundesland von einer CDU/CSU- oder von einer SPD-Mehrheit regiert wird. Zwar hat das Land Bayern insoweit jahrelang eine Vorreiterrolle innegehabt. Für die Polizeigesetzgebung der neuen Bundesländer gilt Gleiches für Sachsen, das sich wiederum am Vorbild Bayerns und Baden-Württembergs orientierte, inzwischen aber von seinem Verfassungsgerichtshof gebremst wurde. Nach dem Ende der rot-grünen Koalition in Niedersachsen scheint die Führungsrolle aber mittlerweile diesem Bundesland zugewachsen zu sein, wie die neugeschaffenen Befugnisse zum Aufenthaltsverbot sowie zur verdachtsunabhängigen Personenkontrolle im gesamten öffentlichen Raum zeigen hier ist Niedersachsen zweifellos ganz vorn. Und die Regierungsmehrheiten in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen demonstrieren beim Polizeirecht ebenso wie viele Parlamentarier und Regierungsvertreter bei den Abstimmungen in Bundestag und Bundesrat zum Lauschangriff, wie eine Große Koalition in Sachen Innere Sicherheit wirkungsvoll agieren kann. Deutschland braucht keinen Jörg Haider, schreibt der Chefredakteur der Berliner Zeitung, es hat Lafontaine und Schröder, Stoiber und Kanther, die es alle vortrefflich verstehen, auf der Klaviatur der Bedrohung zu improvisieren.[57] In der Tat: Die verbreitete Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung schafft die notwendige Akzeptanz für die informationelle Aufrüstung der Sicherheitsbehörden und den Abbau grundrechtlicher Schutzstandards.[58] Tausche Freiheit gegen Sicherheit ist heutzutage eine treffende Bezeichnung der Einstellung der Bürger zu Informationseingriffen des Staates.[59] Die Methode ist historisch bewährt.[60] Nach kommunistischer Bedrohung und Linksterrorismus heißt das Feindbild heute Organisierte Kriminalität.[61] Dabei bewegt sich deren Anteil an der gesamten Kriminalitätsbelastung nach Polizeistatistiken im Promillebereich.[62] Zur Bekämpfung der heutigen Armuts- und Straßenkriminalität taugen die neuen informationellen Kompetenzen (geheime Datenerhebung, verdeckte Ermittler oder Lauschangriff) überdies nur wenig. Neue Gesetze zur Verbrechensbekämpfung symbolisieren jedoch Tatkraft und Entschlossenheit der Regierungsmehrheit und sind weitgehend kostenneutral. Allerdings kann der Staat die Versprechen, auf die er sich einläßt, nicht einlösen.[63] Die Polizei kann die Ursachen der Kriminalität nicht beseitigen an diese Binsenweisheit muß immer wieder erinnert werden. Die nächste angeblich unverzichtbare Befugniserweiterung wird deshalb nicht lange auf sich warten lassen. Schon wird vorgeschlagen, die Immunität für Europol-Beamte auch auf die nationale Polizei zu erstrecken[64]. Und was spricht eigentlich dagegen, der Polizei nach der Legalisierung des Lauschangriffs auch ein voraussetzungsloses Zutrittsrecht zu Privatwohnungen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung zuzugestehen?! Auch hat ein Politiker vor vielen Jahren schon einmal die Anwendung der Folter durch die Polizei in Ausnahmesituationen vorgeschlagen. Er war seinerzeit Ministerpräsident von Niedersachsen ...[65] Martin Kutscha ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin.
[1] Zit. nach: Der Spiegel 6/1998, S. 32 | ||
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