Bürgerrechte & Polizei/CILIP 59 (1/98) | |
Schleierfahndung im Hinterland
Das ganze Land als zweite Grenzlinie |
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von Albrecht Maurer | |
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In geradezu faszinierender Weise schaffen es die Innenministerien und Polizeistrategen, selbst kleinste Schrittchen zu mehr Freizügigkeit in Europa wie den Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen mit einem Ballast an repressiven Maßnahmen wettzumachen Dabei reichen ihnen nicht einmal die im Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) verabredeten Ausgleichsmaßnahmen. Ausgeglichen wird auch im Innern des Landes, u.a. mit "verdachts- und anlaßunabhängigen Personenkontrollen". Der ausgebreitete "Fahndungsschleier" beschränkt sich nicht auf das grenznahe Gebiet, sondern reicht tief ins Land hinein. In demokratischen Staaten - so will es die liberale Tradition - sind die Grenzen der einzige Ort, an dem Personen ohne Anlaß und ohne jeglichen Verdacht jederzeit kontrolliert werden können. Im Inland gilt Freizügigkeit. Hier darf nur überprüft werden, wer durch sein Verhalten dazu Anlaß gibt - wegen einer koinkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder wegen eines Straftatverdachts. Seit den 70er Jahren schon hat man sich sowohl in Deutschland, als auch in anderen europäischen Staaten von dieser Tradition entfernt. An "gefährdeten Orten" kann schon lange "verdachtsunabhängig" kontrolliert werden. Seitdem über die Öffnung der Binnengrenzen im Schengener Raum diskutiert wird, scheint es mit dieser Tradition ganz vorbei. Die Grenze verlandet ins Staatsinnere und wird flexibel. Die grenzpolizeiliche Strategie - so erklärt Markus Hellenthal, Referatsleiter Bundesgrenzschutz (BGS) im Bundesinnenministerium (BMI) - "verläßt die starre Grenzlinie und richtet ihr grenzpolizeiliches Augenmerk auf den Grenzraum, wie er in § 2 Abs. 2 Nr. 3 und § 23 Abs. 1 Nr.1 des Bundesgrenzschutzgesetzes genannt ist:"[1] Bis 30 Kilometer hinter der Grenze darf der BGS Personen anhalten und kontrollieren. So verfährt er nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch an den Binnengrenzen, wo es nach Inkraftsetzen des SDÜ keine Kontrollen mehr geben soll. "Im Rahmen des nationalen und internationalen Sicherheitsverbundes", so Hellenthal, gehe das grenzschützerische Augenmerk "notwendigerweise auch darüber hinaus." Damit sind einerseits die Polizeien der Nachbarstaaten gemeint: Sowohl mit den Schengener Vertragsstaaten als auch mit den Nachbarn im Osten wurden und werden Abkommen über grenzüberschreitende Kooperation, verbesserte Kommunikation, abgestimmte Einsatzpläne, etc. vereinbart. Andererseits bezieht sich Hellenthal auf die Tiefe des inländischen Raumes, in dem die Polizeien der Länder zuständig sind. "Die Öffnung der Binnengrenzen zu unseren europäischen Nachbarn und die Einbindung Deutschlands in den wachsenden Schengener Verbund", so argumentiert denn auch Bundesinnenminister (BMI) Kanther, "stellen auch an die Sicherheitspolitik der Länder neue Anforderungen. Durch den Wegfall der Personenkontrollen an den Schengener Binnengrenzen kommt der verstärkten polizeilichen Überwachung der grenznahen Region und der Verkehrsknotenpunkte maßgebliche Bedeutung zu. Nur durch einen gemeinsamen `Sicherheitsschleier' von Bundesgrenzschutz und Landespolizeien könne verhindert werden, daß Kriminelle ungestört von einem Staat in den anderen reisen können."[2] Die neue Verantwortung der Länder Bayern war im Dezember 1994 das erste Bundesland, das diesen neuen Anforderungen nachkam und in seinem Polizeiaufgabengesetz Befugnisse für "verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen" im Gebiet bis 30 Kilometer hinter der Grenze sowie sowie auf Durchgangsstraßen und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs verankerte. Gerechtfertigt wurde das mit dem EU-Beitritt Österreichs und der bald darauf zu erwartenden Anwendung des SDÜ. Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen folgten mit gleichen Regelungen und Begründungen; in anderen Bundesländern gibt es entsprechende Initiativen.[3]Geradezu absurd mutet es dabei an, daß selbst Thüringen, das weder eine Schengen-Binnen- noch eine Schengen-Außengrenze hat, den Wegfall der Grenzkontrollen kompensieren will. In den Worten der Gesetzesbegründung: Thüringen grenze "zwar nicht unmittelbar an einen Schengen-Mitgliedstaat", "das Zusammenwachsen der europäischen Staaten, die mit der Bewegungsfreiheit einhergehende Migration und die damit im Zusammenhang stehenden Kriminalitätsformen (zeigen jedoch), daß auch Thüringen aufgrund seiner schnellen Verkehrsanbindungen im europäischen Sicherheitsraum nicht außerhalb des kriminalgeographischen Spektrums liegt." Man wolle "sowohl auf die grenzüberschreitende als auch auf die sonstige mittlere bis schwere Kriminalität den Fahndungsdruck" erhöhen.[4] Zweite Grenzlinie In bezug auf die Aktivitäten des BGS im 30 Kilometer-Grenzraum differenziert BMI-Staatssekretär Schelter zwischen der Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs und der "polizeilichen Überwachung der Grenze". Erstere sei an den Binnengrenzen durch Art. 2 SDÜ verboten, letztere sei "hingegen eine allgemeine und zunächst nicht konkretisierte oder personenbezogene Aufgabe der Gefahrenvorsorge. Diese rein beobachtenden Maßnahmen liegen unterhalb einer Eingriffsschwelle und beziehen sich nicht auf eine konkret durchzuführende Personenkontrolle. Sie sind daher vom SDÜ nicht angesprochen bzw. nicht geregelt."[6] Während die mobilen Streifen des BGS im Grenzgebiet zu einer rein beobachtenden Tätigkeit herunterdefiniert werden, bedienen sich die Landesgesetzgeber einer Lücke in Art. 2 SDÜ selbst. Nach Abs. 1 sind zwar an den Binnengrenzen die Grenzkontrollen abgeschafft. Die "Ausübung der Polizeibefugnisse durch die nach nationalem Recht zuständigen Behörden" bleiben dagegen nach Abs. 3, "von der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen unberührt." Dies bedeute, so deduziert ein Ministerialrat aus dem baden-württembergischen Innenministerium, "daß die polizeirechtlichen Befugnisse nicht auf die Grenze bzw. das Überschreiten der Grenze beschränkt gelten dürfen." Zwar sei es in den in Frage kommenden Fällen regelmäßig vorher zu einem Grenzübertritt gekommen, "die Kontrolle erfolgt aber nicht aus diesem Anlaß, sondern um die Fahndungsmöglichkeiten zur Bekämpfung von Straftaten zu verbessern."[7] In der Tat werden die neuen Kontrollbefugnisse in den Landespolizeigesetzen nicht dem BGS übertragen, sondern der jeweiligen Landespolizei. BGS und Länderpolizeien sollen aber im Rahmen einer "Sicherheitskooperation" zusammenarbeiten. Zwischen Baden-Württemberg und dem BMI als Dienstherrn des BGS wurde dazu am 18. Juli 1997 ein Mustervertrag geschlossen, dem weitere mit den anderen Ländern an der Westgrenze folgen sollen. 30 Kilometer und kein Ende Richtig an der Argumentation der Länder, die die neuen
Kontrollbefugnisse eingeführt haben, ist, daß die
Kontrollen keineswegs auf den Grenzraum beschränkt bleiben.
Neben der 30 Kilometer-Zone erlaubt das bayerische PAG in § 13
Abs. 1 Nr. 5 landesweit verdachts- und ereignisunabhängigen
Personenkontrollen - und zwar auf "Durchgangsstraßen
(Bundesautobahnen, Europastraßen und anderen Straßen von
erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden
Verkehr) und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen
Verkehrs". "Wir können es uns nicht leisten", so
erklärte Bayerns Innenstaatssekretär Regensburger bei der
Debatte im Dezember 1994, "lediglich an den Schlagbäumen
der Schengen- und EU-Außengrenzen auf Kriminelle zu warten.
Rechtsbrecher jeglicher Couleur nutzen unsere Verkehrsinfrastruktur
für ihre kriminellen Machenschaften. Wir lassen sie jetzt aber
nicht mehr unerkannt und unbehelligt einfach im Verkehr
mitschwimmen."[8] High-Tech und Instinkt Auch in Baden-Württemberg fanden schon vor der Einführung des neuen Rechts flächendeckende regionale Großfahndungen zu unterschiedlichen Fahndungsschwerpunkten statt. Hinzu kam mindestens eine Fahndung nach "illegalen" AusländerInnen pro Monat, 1994 insgesamt 824, bei denen über 8.900 Beamte eingesetzt waren. "Obwohl es sich dabei um eingehend vorbereitete polizeiliche Kontrollen mit gezielter Aufgabenstellung gehandelt hat, hat die Polizei `lediglich' 187 illegal aufhältliche oder beschäftigte Ausländer festgestellt."[13] Der Landesdatenschutzbeauftragte fragt daher zu Recht, wieso bei "verdachtsunabhängigen" Kontrollen "ins Blaue" der Erfolg größer sein soll, und verweist auf das bayerische Beispiel: Im ersten Jahr nach Inkrafttreten des neuen PAG wurden 23.000 Personen überprüft und dabei 625 Straftaten entdeckt. Technik und Erfahrungswissen der Kontrolleure konnten auch bei bösestem Willen gegen 97% der Kontrollierten nichts finden.Albrecht Maurer wohnt in Göttingen und publiziert zu Themen aus dem Bereich der Inneren Sicherheit. Bis 1994 war er Mitarbeiter der AG Innenpolitik der PDS/ Linke Liste im Bundestag. Anmerkungen [1] Kriminalistik 2/97, S. 123 | |
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