Bürgerrechte & Polizei/CILIP 60 (2/98) | |
Literatur
Rezensionen und Hinweise |
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Auf
die Literatur zum Schwerpunkt Überwachungstechnologien
werden wir in der nächsten Ausgabe hinweisen.
Neuerscheinungen Winter,
Martin:
Politikum Polizei (Reihe Politische Soziologie, Bd. 10), Münster 1998
(LIT-Verlag), 553 S., DM 49,80
Die
soziologische Dissertation von Martin Winter fragt danach, wer das polizeiliche
Handeln bestimmt, ob die Polizei ein Instrument der Politik oder sie ein - sich
u.U. verselbständigender eigenmächtiger Akteur ist
(S. 8, 445). Untersucht wird von ihm nicht konkretes polizeiliches
Handeln, sondern Deutungsmuster (S. 381) der Polizeiführung.
Das Handlungs
wissen
leitender
Polizisten steht im Mittelpunkt der Arbeit. Unter dem Stichwort
protest
policing
(S. 18) entwickelt der Autor eine Perspektive, in der die Polizei im Umgang mit
den großen gesellschaftlichen Konflikten dargestellt wird.
Dabei
verbindet er eine historisierende Darstellung von Einsatzgrundsätzen der
deutschen Polizei(führung), von den 60er Jahren bis zur Deutschen Einheit,
mit einer Strukturanalyse des Polizeiapparates. Empirisches Herzstück der
Untersuchung bildet die qualitative Textanalyse von Polizeizeitschriften und
von Interviews mit 16 Polizisten des höheren Dienstes. Darüber hinaus
werden die umfangreichen Kenntnisse der einschlägigen Polizeiforschung
immer wieder in die Argumentation eingeflochten. Daß die polizeilichen
Fachzeitschriften die Diskurse der schreibenden Klasse und die
Experteninteviews die der redenden Klasse in der Polizei
wiedergeben, wird leider von Winter etwas zu wenig reflektiert; lediglich im
Anhang (S. 462ff.) wird auf die konstruktivistische Perspektive und die
Gesprächsatmosphäre hingewiesen.
Zehn
Kapitel strukturieren das über 400seitige Werk. Die ersten beiden befassen
sich mit Definitionen (z.B. zum Gewaltbegriff und dem staatlichen
Gewaltmonopol) und der Beschreibung der Organisation der Polizei. Im dritten
Kapitel tauchen die meisten deutschen Polizeiforscher auf; stellenweise hat man
das Gefühl, als wolle Winter jedem, der schon einmal unter der Rubrik
Polizei publiziert hat, die Ehre erweisen. Er leistet hier eine
Fleißarbeit, die in dem Ausmaß eigentlich nicht nötig gewesen
wäre. Es ist jedoch verdienstvoll, für die nachfolgenden Generationen
aufgeschrieben zu haben, was und vor allem
wie
in Deutschland schon über die Polizei gedacht und geforscht worden ist.
Die
in Kapitel IV vorgestellte historische Konzeptualisierung polizeilicher
Einsatzparadigmen in den vergangenen 30 Jahren ist hingegen auch inhaltlich
inspirierend. Winter beschreibt vier Phasen des polizeilichen
Selbstverständnisses, beginnend mit einer Era of good
feeling (1960-67) bis hin zur Evolution (1979-90). Man
kann anderer Meinung sein hinsichtlich der Phaseneinteilung und ihrer
gesellschaftspolitischen Eckdaten. Es ist ihm aber gelungen, gut
dokumentiert eine Entwicklungsgeschichte unterschiedlichster Polizeistrategien
zu entwerfen, an der man weiter arbeiten kann.
In
den Kapiteln VI bis VIII folgt wieder ein deskriptiver Parforceritt, nun unter
dem Gesichtspunkt des protest policing. Daß Winter diesen
Komplex wählt, erscheint schlüssig, immerhin will er ja die Polizei
dort untersuchen, wo sich das Interessengeflecht von Politik und Recht am
stärksten zeigt. Dazu wählt er fünf Handlungsfelder sozialen
Protestes aus: links- und rechtsradikaler Protest, Jugendgewalt (insbesondere
Fußballgewalt und Hooliganismus), Ausländerprotest und Protest von
ArbeitnehmerInnen. Diesen Protestformen stellt er die Einsatztaktiken der
Polizei gegenüber. Eindrucksvoll zeichnet er anhand der Auswertung
polizeiinterner Diskurse die jeweiligen Legitimationsmuster zur
Definition der Gegner nach. Dabei unterschätzt er allerdings, daß
die Protestformen der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung, der
Bürgerinitiativen etc. wesentlich mehr zur Verunsicherung der Polizei
beigetragen haben, als die klassischen Konflikte. Konnten diese
deshalb so gut delegitimiert werden, weil sie von Akteuren getragen wurden, die
subkulturellen Milieus angehörten oder sonst marginalisierbar waren (z.B.
Linke, Autonome, Skinheads, Hooligans oder auch Kurden), so
rekrutierte sich der neue Protest eher aus der Mitte der
Gesellschaft und dazu gehörten auch Bekannte, FreundInnen,
Nachbarn und KollegInnen von PolizistInnen.
Mit
Kapitel IX kommt Winter mit größerer Prägnanz zum
gesellschaftsdiagnostischen Teil. Während man bis dahin eher an ein gut
angelegtes Handbuch für Polizeiführungskräfte erinnert wurde,
wird nun versucht, den Anspruch einzulösen, die Polizei als
Politikum
nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu analysieren. Der Autor weist auf den
grundlegenden sozialen Pessimismus (S. 386) vieler
Polizeiführer hin, der sich in verschiedenen Lamentos über den
Werteverfall, die soziale Desintegration, die Erosion des
Rechtsbewußtseins (S. 384) und die Ausbreitung von Hedonismus und
Egoismus (S. 385) konkretisiere. Dabei wird deutlich, daß die
Polizeiführung einerseits die gesellschaftlichen Diskurse rezipiert und
sie sich auch argumentativ aneignet, andererseits ihre eigene Erfahrung mit
diversen Protestformen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Gesellschaftsdiagnose
macht: Protest wird als Krisenphänomen, als Ausdruck der
defizitären gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet; insbesondere
gewalttätiger Protest wird als (Über-)Reaktion auf pathogene
gesellschaftliche Strukturbrüche interpretiert (S. 386). Die
Gesellschaftsdiagnose der Polizeiführung ist im wesentlichen eine auf
Gewalt zentrierte (S. 386). Man hat das schon immer geahnt, aber bisher fehlten
meist die Parameter, an denen eine solche Einschätzung festgemacht werden
konnte. Diese Lücke hat Martin Winter gefüllt. Die eingangs gestellte
Frage, wo die deutsche Polizei zwischen politischer Instrumentalisierung und
Verselbständigung steht, wird aber auch hier nicht klar beantwortet. Zu
oft bleibt es bei vagen Vermutungen, weiteren Fragestellungen und Verweisen auf
die heterogenen Diskurse.
Der
eigentliche analytische Wert der Untersuchung liegt eindeutig im letzten
Kapitel. Hier wird herausgearbeitet, daß es so etwas wie eine
einheitliche Polizeitheorie oder, wie er es nennt, eine Polizeiphilosophie,
für die deutsche Polizei nicht gibt, obwohl sie von Theoretikern wie von
Polizeistrategen gefordert wird. Ebenso deutlich wird das Spannungsfeld der
Polizei zwischen ihrem Verfassungsauftrag, dem Primat des Politischen und
berufsständischer Selbstaffirmation rekonstruiert. Man kann
unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob es der deutschen Polizei an
einer Philosophie ihrer Arbeit fehlt oder schlicht an einer
polizeilichen Handlungslehre, die im Ergebnis auf das gleiche hinausläuft:
die Zuständigkeit und das Selbstverständnis einer
Bürgerpolizei
so zu verankern, daß rechtliche Begrenzungen nicht als lästige
Behinderung aufgefaßt werden, sondern als
verfassungsmäßige
Grundlage des Gewaltmonopols
(S.
455). Wie weit unsere Polizeieliten von einem solchen Konsens noch entfernt
sind, davon gibt Winters Arbeit beredt Zeugnis. Mit
den
Kriterien
Verfassungsrechtsbewußtsein,
Rechtsbindung
und
Transparenz nach außen
(S.
455) prüft er den politischen Anspruch an der Praxis und kommt zu dem
Ergebnis, daß eine Transformation einer staatszentrierten in eine
Bürgerpolizei
daran scheitert, daß die Haltung der Polizeiführung eher mit dem
Begriff
Verfassungslyrik
zu charakterisieren ist, es sich aber nicht um ein echtes
republikanisches
Bekenntnis
(S. 454) handelt.
Martin
Winter hat einen wichtigen Beitrag zur deutschen Polizeiforschung geliefert. Er
bietet ein Kompendium der deutschen Polizei, und er hat eine weitere
Perspektive der polizeilichen Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte
(protest policing) hinzugefügt. Die Arbeit gibt so viele
Informationen über den intellektuellen und politischen Zustand und die
Organisation der deutschen Polizei(führung), daß sie im Regal eines
jeden Polizeiforschers/ einer jeden Polizeiforscherin stehen (und auch gelesen
worden sein) sollte.
(Rafael
Behr, Frankfurt)
Besozzi,
Claudio:
Organisierte Kriminalität und empirische Forschung, Chur, Zürich 1997
(Verlag Rüegger), 117 S., DM 43,
Diese
knappe Literaturstudie entstand im Rahmen des Schweizer Nationalen
Forschungsprogramms Gewalt im Alltag und organisierte
Kriminalität. In vier Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit
der Vielfalt des Phänomens organisierte Kriminalität
(OK), stellt die wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit OK vor, referiert den
internationalen Forschungsstand vor allem im Hinblick auf die genutzten
Untersuchungsmethoden und gibt eine Übersicht über die Situation in
der Schweiz sowie Empfehlungen für zukünftige Forschungen. Verglichen
mit der im deutschsprachigen Raum vorherrschenden Wiedergabe von OK-Stereotypen
ist die Lektüre des Bandes nicht nur wohltuend, sondern auch anregend. Vor
allem die Liste der im zweiten Kapitel aufgeworfenen Fragen, die beantwortet
werden müßten, um das Gerede über organisierte
Kriminalität durch Analysen zu ersetzen, sollte zur Pflichtlektüre
für Polizisten, Politiker und Journalisten gehören. Der Vielfalt der
Erscheinungsformen von OK werde man vermutlich am ehesten gerecht, so der
Autor, wenn auf strafrechtliche oder moralische Kategorien verzichtet und als
analytischer Rahmen das Gemeinsame jener vermeintlichen OK-Phänomene
zugrunde gelegt werde: daß es sich immer um illegale Märkte für
verbotene Güter und Dienstleistungen handelt. Statt einen nebulösen
OK-Begriff weiter zu verwenden, plädiert Besozzi für die
empirisch fundierte Beschreibung der Phänomene, die mit
organisierter Kriminalität in Zusammenhang gebracht werden (S. 97).
Daß Politik und Sicherheitsbehörden daran ein Interesse hätten,
ist allerdings nicht in Sicht; weder in der Schweiz noch in Deutschland.
Roulet,
Nicolas:
Das kriminalpolitsche Gesamtkonzept im Kampf gegen das organisierte Verbrechen
(Europäische Hochschulschriften, Reihe II Rechtswissenschaft, Bd. 2219),
Bern, Berlin, Frankfurt/M. u.a. 1997 (Verlag Peter Lang), 219 S., DM 69,
Unter
einem auf den ersten Blick mißverständlichen Titel untersucht diese
juristische Dissertation die 1994 in das Schweizer Strafgesetzbuch
eingefügte Bestimmung über Kriminelle Organisationen.
Nachdem der Autor einleitend das Gesetzgebungsverfahren nachzeichnet,
unternimmt er eine dogmatische Auslegung der neuen Strafbestimmung. Er stellt
fest, daß dem Gesetzgeber eine eindeutige begriffliche Bestimmung von
organisiertem Verbrechen nicht gelungen ist (S. 67).
Überzeugend kann Roulet nachweisen, daß die Bedeutung der neuen Norm
nicht darin liegt, neues tatbestandliches Unrecht zu fixieren;
materiellrechtlich sei sie ohne Relevanz (S. 162). Vergleichbar mit den
Organisationsdelikten im deutschen Strafrecht führe die Konstruktion des
Tatbestandes vielmehr zur Kriminalisierung im Vorfeld strafbarer Handlungen. Es
werde eine neuartige Zurechnungsregel in das Rechtssystem eingeführt, die
von einem Verschulden der Organisation ausgehe, aber gleichzeitig darauf
abziele, einzelne Personen zu bestrafen (S. 114). Seine eigentliche Wirkung
entfalte der neue Straftatbestand durch die mit ihm verbundenen Rechtsfolgen:
Er erlaube die schuld-unabhängige Vermögenseinziehung und damit die
faktische Umkehr der Beweislast (S. 163-170), und er erleichtere die
internationale Rechtshilfe (S. 171-178). Schließlich existiere ein
direkter Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung gegen das organisierte
Verbrechen und der Veränderung des Schweizer Polizeisystems. Der Autor
diagnostiziert die Vorverlagerung polizeilicher Tätigkeiten, die
Zentralisierung der Apparate, die zunehmende Bedeutung der Informationsarbeit
und der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit (S. 179-206). Auch in der
Schweiz scheint sich OK als Begründung für vieles zu eignen, was
anders nicht (so leicht) durchsetzbar wäre.
(beide:
Norbert Pütter)
Wurr,
Rüdiger; Dittrich, Irene:
Straßensozialarbeit und Jugendgewalt. Erfahrungen und
Schlußfolgerungen aus Modellprojekten in Schleswig-Holstein, Kiel 1997
(Agimos-Verlag), 196 S., DM 22,80
Für
drei in besonderer Weise betroffene Standorte, so heißt es im
Vorwort zur Untersuchung von Wurr und Dittrich, den Kreis
Herzogtum-Lauenburg mit seiner Nähe zur Metropole Hamburg, die Stadt
Lübeck, die durch mehrfache Anschläge in der Vergangenheit belastet
war und ist, und den Raum Rendsburg, ein Treffpunkt für eine
rechtsextremistische Jugend- und Erwachsenenszene wurden mit Bedacht je
zwei Streetworker ausgewählt, um gezielt gewaltbereite und
rechtsextremistische Jugendcliquen anzusprechen (S. 11).
Die
wissenschaftliche Auswertung dieser Modellversuche sollte vor
allem dazu dienen, zu überprüfen, ob Streeworker die Kinder und
Jugendlichen erreichen könnten, die durch die sonst gegebenen
Institutionen und ihre Vertreter nicht erreichbar sind. Die Studie
überzeugt, wo sie geradezu handbuchartig Begriffe klärt und Aufgaben
im Umkreis von Straßensozialarbeit einleuchtend bestimmt
und differenziert vorstellt (S. 17f.). So begründen Wurr/Dittrich
plausibel, warum Straßensozialarbeit erforderlich ist, scheuen vor einem
eindeutig simplen Gewaltbegriff zurück, greifen das Thema Gewalt in
der Schule kenntnisreich auf und äußen sich vor allem
einschlägig zu den beruflichen Anforderungen an die Streetworker und den
Eigenarten ihrer Jugendarbeit.
Vieles
von dem, was die Studie berichtet, wie etwa im Rahmen des für
Cilip-Lesende besonders interessanten Kapitels Dialog mit der
Polizei, regt an und klärt auf. Etwa folgende summarische
Beobachtung: Zu den methodisch bedeutsamen Ergebnissen des Dialogs von
Polizei und Sozialarbeit ist der Modus des tendenziell einseitigen
Informationsflusses (von der Polizei in Richtung Streetwork) und die
Respektierung der straßensozialarbeiterischen Schweigepflicht zu
zählen (S. 129f.). Die Untersuchung enttäuscht aber dort, wo
Autorin und Autor die Modellversuche genauer unter die Lupe zu nehmen
versprechen (S. 72ff.). Hier fehlt jegliche dichte Beschreibung der drei Orte
und ihrer spezifischen Probleme. Viel zu rasch und geradezu analysefrei wird
verallgemeinert. Es fehlen die anschaulichen Beispiele. Selbst wenn das
Herzogtum Lauenburg überall in der Bundesrepublik läge, käme es
darauf an, die Verallgemeinerungen vom Besonderen her, dem spezifischen Umfeld
der Jugendlichen aus zu gewinnen. Vielleicht ist es deshalb nicht
zufällig, daß diese Jugendlichen im Bürokratendeutsch zu
Klienten werden bzw. solche bleiben.
Wunschik,
Thomas:
Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997
(Westdeutscher Verlag), 514 S., DM 58,
Tobias
Wunschik beschreibt die Mitglieder der RAF ihre Aktionen, ihre
Einstiegs- und ihre Austiegsprozesse , die im Kampf gegen die
Haftbedingungen (Isolationsfolter) in die RAF hinein
sozialisiert wurden, deren erste hauptsächliche
Aktivität die Befreiung der originären
Stammheimer gewesen ist und die sich die Ende der 70er Jahre
entweder in die DDR abgesetzt haben (und 1990 den größten
Fahndungserfolg qua Einigung ermöglichten) oder sonst
verurteilt und inhaftiert worden sind. Diese zweite Generation
blieb ganz im Schatten der ersten, die sie bis zu ihrem Selbsttod
im Oktober 1977 nicht nur indirekt, sondern vielfach direkt dirigierte.
Wunschick
wertet nicht nur die Sekundärliteratur aus, sondern er schöpft
intensiv aus den Vernehmungsprotokollen, zieht RAF-Publikationen und
Selbstaussagen aller Art heran, konsultiert die Gerichtsurteile gegen die
Mitglieder der zweiten Generation, beachtet auch die Unterlagen
aus der Stasi-Küche und greift auf eigene Gespräche zurück, die
er 1993 und 1994 mit Peter-Jürgen Boock, Werner Lotze und Silke Maier-Witt
geführt hat.
Der
Autor dieser Münchner Dissertation von 1995 nutzt den Vorteil der Distanz
im Hinblick auf die immer noch lückenreichen, nun jedoch insgesamt
zahlreich und ergiebig fließenden Quellen ebenso wie im Hinblick auf die
eigene Herangehensweise an sein Thema. Das (fast immer) falsche Entweder-Oder
des Parteigängers verblendete nicht schon die Beschreibung der
Geschehensabläufe, von deren Beurteilung ganz zu schweigen. In diesem
Sinne kann der Nachgeborene einen perspektivischen Vorteil
nutzen. Darum sind auch eine Reihe der Beschreibungen einzelner RAF-Mitglieder
und ihrer RAF-zuführenden Lebensläufe (S. 194ff.), vor allem aber der
RAF-Taten zwischen 1977 und 1979 (S. 246ff.) und der inneren Struktur der RAF
(S. 341ff.) interessant, z.T. sogar spannend zu lesen, wenngleich sie keine
Überraschungen enthalten.
Dennoch
vermag diese umfangreiche, insgesamt lesbar geschriebene Studie nicht
zufriedenzustellen. Das hat vor allem vier Gründe. Zum ersten langweilt
Wunschik im 2. Kapitel durch einen Überblick zum Forschungsstand zu
den Bedingungen des Linksterrorismus in Deutschland. Dieser
Überblick bleibt ohne methodisch-analytische Schlußfolgerungen. Der
Autor belegt allein: er ist belesen, ohne daß er seine Lesefrüchte
zureichend sortierte und nutzte.
Zum
zweiten: Obwohl im Literaturkapitel und in den Schlußbemerkungen (S.
404ff.) über die Interaktion der RAF mit Staat und
Gesellschaft berichtet wird, spielt der allgemeine
politisch-gesellschaftliche Kontext der Bundesrepublik kaum eine Rolle. Dadurch
verbleibt Tobias Wunschik unvermeidlich bei weithin isolierten biographischen
und psychologischen Daten und bei Interpretamenten, die just die konkon-artige
Existenzweise der RAF sowie deren Handlungs-, vielmehr Reaktionsweise nicht
erklären, ja nicht einmal zureichend beschreiben können.
Zum
dritten: Der Erkenntnisspaß angesichts des füllig zusammengestellten
Materials wird zu einem beträchtlichen Teil vergällt und verstellt,
weil zuweilen aus den Quellen nicht kritisch genug geschöpft wird und weil
Tobias Wunschik den Stoff nicht so durchsichtig aufbereitet, daß sich
der/die Lesende selbst ein fundiertes eigenes Urteil bilden könnte. Dieser
allgemeine Eindruck wird dort bestätigt, wo der Rezensent über
eigenständige Quellenzugänge verfügt (wie beispielsweise im
Falle Monika Haas oder selbst mit zur Quelle gehört, wie im Falle
Drittes Internationales Russell Tribunal). Wenn der Autor auch
sonst so geschlampt hätte, wie in diesen beiden Fällen, dann
stünde es mit der Verläßlichkeit seiner gesamten Arbeit nicht
zum besten.
Zum
vierten: Der Autor will zu viel und zu wenig auf einmal. Er will eine ganze
Gruppe kollektiv und individuell ausloten. Das ist auf diese Weise in einem
Buch, einer Dissertation nicht zu schaffen. Zu wenig will der Autor insoweit,
als er auf eine zusammensehende Analyse verzichtet und letztlich nur mehr
schlecht als recht präparierte Lesefrüchte und sehr durchwachsen
präsentierte Informationen auftischt.
Hirsch,
Joachim:
Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, Berlin 1998 (ID Verlag),
171 S., DM 28,
Diese
Sammlung von Aufsätzen Joachim Hirschs aus den Jahren 1992 bis 1997
verbindet in Titel und Argumentation seine Bücher zum
Sicherheitsstaat (1986, 2. Aufl.) und zum nationalen
Wettbewerbsstaat (1995).
Der
Akzent der Aufsätze liegt stärker auf der zuletzt genannten
Publikation, also auf den Veränderungen staatlicher Politik im Zeichen der
von Hirsch präziser gefaßten Globalisierung, als auf dem eher
binnenzentrierten Konzept des Sicherheitsstaates. So wie freilich
das, was Hirsch unter Sicherheitsstaat verstand und versteht i.S. eines
dynamisch expandierenden Regulierungs- und Repressionskomplexes, eng mit dem
Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Gesellschaftstypus
zusammenhängt, so hebt der nationale Wettbewerbsstaat im
globalen Bezugs- und Definitionsrahmen nicht virtuell ab. Dieser nationale
Wettbewerbsstaat lebt vielmehr im verstärkten Maße von seinem
informationell sublimierten und physisch verstärkten Hauptinstrument
zugleich: dem Monopol legitimer, also mit allgemeinem Geltungsanspruch
versehener physischer Gewaltsamkeit. Sozialstaatliche Deregulierung und
sicherheitspolitische Regulierung greifen wie Zahnräder ineinander (vgl.
vor allem den Aufsatz Globalisierung des Kapitals und die Transformation
des Sicherheitsstaats, S. 70ff.). Insofern alle Aufsätze Hirschs
von der einen oder anderen Perspektive die Möglichkeiten und Grenzen
nationalstaatlicher Politik behandeln, helfen sie mit, die heute mehr denn je
drängenden Fragen zu beantworten: welcher Stellenwert kommt im Zeichen der
Globalisierung dem staatlichen Gewaltmonopol im Innern zu; wieweit werden das
Gewaltmonopol und seine Institutionen mehr als je zuvor interessenspezifisch im
Sinne einseitiger gesellschaftlicher Interessen funktionalisiert; welche
institutionellen und normativen Minima sind geboten, um allein den
verfassungsgemäßen Legitimationsanspruch zu halten; und anders: wie
verändern sich im Zeichen der Globalisierung die nationalstaatlichen, die
bürgerlichen und/oder die zwischen den verschiedenen Bürger-Klassen
bestehenden Sicherheitsanforderungen- und bedürfnisse?
(sämtlich:
Wolf-Dieter Narr)
Internationale
Liga für Menschenrechte; Erbe, Birgit (Hg.):
Frauen
fordern ihr Recht. Menschenrechte aus feministischer Sicht (Edition Philosophie
und Sozialwissenschaften 45), Berlin, Hamburg 1998 (Argument Verlag),
136 S., DM 24,80
Frauenrechte
sind Menschenrechte. So wurde es von den RegierungsvertreterInnen im
Abschlußdokument der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking schwarz
auf weiß festgehalten. Daß es sich bei diesem Bekenntnis
weitestgehend um eine Leerformel handelt, verdeutlicht der vorliegende Band
eindrücklich. Er dokumentiert die Beiträge einer Tagung, die 1996 von
der Internationalen Liga für Menschenrechte und dem Bildungswerk für
Demokratie und Umweltschutz in Berlin veranstaltet wurde. Frauen aus
Wissenschaft und politischer Praxis diskutierten das Konzept der
Menschenrechte, unterzogen es einer feministischen Kritik und zeigten anhand
verschiedener Beispiele die Verletzung der Menschenrechte von Frauen auf.
Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge sollen drei Kernprobleme der
feministischen Kritik an der herrschenden Menschenrechtspraxis bilden: 1) die
Blindheit bei Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen aufgrund ihres
Geschlechts, 2) die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre in
der Konzeption und Anwendung der Menschenrechte und 3) die Ausblendung des
gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs von Frauen, d.h. ihrer strukturellen
Benachteiligung (S. 9). Anhand der Themen häusliche Gewalt (in
Immigrantenfamilien), islamischer Fundamentalismus, Unterdrückung
ethnischer Minderheiten, Migrantinnen/Kriegsflüchtlinge in der EU sowie
Effektivität des Frauen-/Menschenrechtsschutzes der Vereinten Nationen
wird die Situation der Menschenrechte von Frauen aufgezeigt, und Forderungen
für einen effektiven Schutz werden aufgestellt. Die Herangehensweise der
einzelnen Beiträge unterscheidet sich dabei erheblich. So finden sich
Analysen der rechtlichen Schutzinstrumente (
Keller
zur UN) neben Einzelfallschilderungen
(Ahmadi
zur
Verschleierung,
Vahedi
zur
Unterdrückung religiöser Minderheiten im Iran), zahlreichen
Beiträgen zu Migration und einem Werbebeitrag für das Berliner
Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG)
(Schweikert).
Die Analyseebene wird nur selten beschritten. Die meisten Beiträge bleiben
deskriptiv und isoliert voneinander, ohne sich auf die zuvor genannten drei
Kernprobleme der herrschenden Menschenrechtspraxis explizit zu beziehen.
So
wirft dieser Band leider nur ein Schlaglicht auf den aktuellen Stand der
feministischen Menschenrechtsdiskussion zumindest auf der empirischen
Ebene; denn theoretische Überlegungen kommen wie bei
Tagungsbeiträgen häufig zugunsten von Falldarstellungen etwas
zu kurz.
(Martina
Kant)
von-Hinckeldey-Stiftung
(Hg.):
Berliner Polizei. Von 1945 bis zur Gegenwart, Berlin 1998 (Jaron Verlag
Berlin), 256 S., DM 34,
In
der Einrichtung des Instituts der Schutzmannschaft im Gefolge der
Revolution von 1848 sieht die Berliner Schutzpolizei ihre historischen Wurzeln.
Einen Überblick über mehr als 50 Jahre Berliner
Polizeigeschichte verspricht der Band, der aus Anlaß des 150.
Geburtstags erschien. Das ging gründlich schief.
Schon
der Titel Berliner Polizei. Von 1945 bis zur Gegenwart ist
irreführend. Behandelt wird die gesamte Berliner Polizei lediglich in den
Berichten über die unmittelbare Nachkriegszeit, denn mit der Ernennung von
Johannes Stumm zum Polizeipräsidenten in den Westsektoren der Stadt im
August 1948 endete deren gemeinsame Geschichte. Der Beitrag über die
Volkspolizei (S. 184-193) hat eher Feigenblattcharakter. Mit insgesamt 6
Textseiten ist er beträchtlich kürzer als jener über die
Wasserschutzpolizei, der es auf knapp 18 Textseiten bringt. Zumindest ein
West- hätte dem Titel also voranstehen müssen.
Daß
die Erinnerungen von Beamten der Stunde Null sich vielfach
gleichen und die so entstehende Wiederholung gleicher Fakten und Vorgänge
langsam ermüdet, ist sicherlich in erster Linie ein redaktionelles
Problem. Nicht jedoch die Unterschlagung der mehrfach notwendigen
Entnazifizierung der deutschen Nachkriegspolizei. In Berlin, so weist eine
Tabelle zwar noch aus, schieden allein in der Zeit vom 3. Juli bis zum 31.
Dezember 1945 insgesamt 3.779 Mann aus. Der Text erläutert hierzu:
Wenn Polizeiangehörige auf eigenen Wunsch aus dem Dienst
ausschieden, dürften die wachsenden Lehrgangsanforderungen häufig der
Grund gewesen sein. Außerdem boten sich in der Wirtschaft, die langsam
wieder in Gang kam, erneut Erwerbsmöglichkeiten an, die wahrgenommen
wurden. So einfach ist das. Zwangsweise Entfernung aus der Polizei hat
es, diesem Buch zufolge, lediglich in Einzelfällen gegeben. Andere
Vorgänge aus dem Innenleben der (West-)Berliner Polizei hingegen sind
wieder hoffähig geworden. So beschreibt etwa ein Kriminalhauptkommissar
wie er 1962 gemeinsam mit einem Kollegen während der Dienstzeit ein Loch
in die Mauer sprengte (S. 79-84). Seine Erinnerungen enden: Aus
Sicherheitsgründen mußte ich (...) innerhalb von 48 Stunden Berlin
verlassen. Das teilte mir der Polizeipräsident, Herr Duensing,
persönlich mit. (...) Ihre Handlungsweise reicht vom einfachen
Dienstvergehen bis zum Verbrechen. Trotzdem verurteile ich das nicht, ich
schätze es in diesem Falle eher. (...) Ich wurde zur Landespolizei
Niedersachsen versetzt (...). Erst im Jahr 1970 konnte ich wieder in den
Polizeidienst des Landes Berlin zurückkehren. Tja, so war das damals.
Bei
den jüngeren Ereignissen hingegen wurde wieder kräftig mit dem
Retuschierpinsel gearbeitet. Etwa bei den selbstverliebten Darstellungen des
früheren Polizeipräsidenten Klaus Hübner über die
Polizeireform von 1974 (S. 96-123) oder bei den Erzählungen seines
Nachfolgers Georg Schertz über die Abriegelung Kreuzbergs 1987 oder die 1.
Mai-Einsätze der Jahre 1987-92 (S. 148-161). Wenn sich Anglerlatein durch
Übertreibung auszeichnet, so glänzt Polizeirhetorik durch
Auslassungen. Dennoch hat Schertz mit seiner Darstellung über die
polizeiliche Situation im Westteil Berlins während der Wendeereignisse des
Herbstes 1989 und die Reintegration der Ostberliner Polizei 1990 den
spannendsten und wichtigsten Teil geschrieben (S. 163-183). Vieles davon hat
man vorher (so) nicht gewußt. Gleichwohl bleiben auch hier die Rolle der
Alliierten und ihre Einflußnahme auf die Sicherheitsbehörden
weitgehend ausgespart.
Ein
Buch über die Geschichte der Berliner Polizei ist somit nicht entstanden.
Eher eines über die Geschichtsblindheit der Berliner Polizei. Aber war
eigentlich mehr zu erwarten?
(Otto
Diederichs)
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