Bürgerrechte & Polizei/CILIP 60 (2/98) | |
Wir Bürger als Sicherheitsrisiko
Rückblick und Ausblick |
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von Wolf-Dieter Narr | |
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1977
habe ich, von Freimut Duve angeregt, einen Band bei Rowohlt-aktuell
herausgegeben, der den Titel trug: Wir Bürger als
Sicherheitsrisiko. Das war mitten im Deutschen Herbst. Ein
geradezu radikaler Mangel an Augenmaß wurde kund, sowohl auf seiten der
RAF und ihrer insgesamt kleinen Anhängerschar: als ob ein
revolutionärer Wandel der herrschenden Verhältnisse
durch demaskierende Aktionen, die nur auf Mord offizieller
Vertreter hinausliefen, herbeigeführt werden könne, als auch auf
seiten der etablierten Politik und Öffentlichkeit, die schon auf die
demonstrativen Akte der Studentenbewegung reagiert hatte, als drohten Chaos und
Gewalt. Seinerzeit wurde das System Innerer Sicherheit aus der
Taufe gehoben. Daß es zu einem System wurde, ist nicht
zuletzt der technischen Entwicklung zu verdanken, die den
Sicherheitsbehörden neue Möglichkeiten bot.
Das
System Innerer Sicherheit wurde 1972 zum ersten Mal offiziell in
den Verkehr gebracht. Die Überlegungen, die zu ihm führten, waren
nicht primär auf den antiterroristischen Kampf
zurückzuführen. Sie wurden jedoch durch letzteren erheblich
begünstigt und intensiviert. An erster Stelle stand der Versuch einer
präventiven
Kehre
der Politik innerer Sicherheit. Statt nur auf begangene Taten zu reagieren,
wollte man kriminellen Taten zuvorkommen.
Aus
der präventiven Absicht folgte zum zweiten, daß sich das
Bild
der Täter
verschieben, genauer, daß sich dasselbe normalisieren mußte. Da
Taten, bevor sie begangen werden konnten, verhindert werden sollten,
mußten alle Bürgerinnen und Bürger verdächtig werden.
Mitten in der Normalität konnte sich Anomie entwickeln.
Die
präventive Absicht und das diffuse, alle Normalität prinzipiell
einbeziehende Täterbild hatten zur weiteren Konsequenz, daß die
Rechtsform
polizeilichen Handelns
umgeeicht werden mußte. In das Polizeirecht wurden Regelungen
eingefügt, die nicht länger dem herkömmlichen
Konditionalprogramm, sondern dem
Muster
des Zweckprogrammsfolgten.
Konditionalprogramm meint: wenn der Fall X eintritt, dann erfolgt die Reaktion
Y. Die normierte Wenn-Dann-Sequenz bestimmt polizeiliches Handeln prinzipiell
als ein Handeln, das nach einer abweichenden Tat einsetzt. Das aber heißt
zugleich: Die Norm, die verletzt werden muß und die Folgen, die diese
Verletzung nach sich zieht, sind vergleichsweise präzise zu statuieren.
Dagegen werden gemäß des Zweckprogramms die Rechtsnormen auf ein
bestimmtes Ziel,
z.B. Verbrechensbekämpfung ausgerichtet. Die Normen
müssen eher offen formuliert werden, damit polizeiliches Handeln auf alle
möglichen Eventualitäten gefaßt sein kann.
Die
präventive Kehre wurde zum vierten nun erst möglich,
weil die
technischen Voraussetzungen
gegeben waren, genauer: weil sie jetzt angesichts vor allem der
computertechnischen Entwicklung geschaffen werden konnten. Die siebziger Jahre
sind nicht umsonst das Jahrzehnt, in dem die Neuen Technologien, an erster
Stelle die Informationstechnologie und ihre sich ausdifferenzierenden
Instrumente, von den bundesdeutschen Polizeien im großem Umfang rezipiert
werden. Seitdem sind polizeiliches und technisch-technologisches Lernen und
Handeln vor allem in den polizeilichen Kernbereichen eins. Und diese 70er Jahre
sind es auch nicht zufälligerweise, die dem Technik-Freak
Horst Herold seine Chance als Chef des BKA eröffneten. Er
war dafür bekannt, daß er darauf setzte, mit Hilfe der
Informationstechnologie das polizeiliche Erkenntnisprivileg so
perfekt auszubauen, um damit eine verbrechensfreie Gesellschaft zu erfinden.
Von der Rasterfahndung über verbesserte, heute genetisch
erfolgende Daktyloskopie bis hin zur Kontaktsperre zwischen
Angeklagten und Verteidigern reichte das neue technische Spektrum.
[1] Insofern
ist man geneigt, ein Déjà vu auszurufen, wenn
heute, eine Generation später, ein kräftiger Aus- und Umbau der
polizeilichen Überwachungstechnologien beobachtet wird. Olle
Kamellen, das kennen wir alles schon, ist man festzustellen geneigt.
Kontinuität scheint also gegeben. Qualitative Sprünge sind nicht
festzustellen. Außer und in diesem außer
steckt mehr als ein kleiner Vorbehalt die wissenschaftlich-technischen
Entwicklungen erlaub(t)en polizeilich genutzt neue
Recherchequalitäten. Auch nur sanft sich verändernde
Kontinuitäten, die auf ein allmählich wachsendes Maß an
Überwachungstechnologien hindeuteten, könnten freilich
bürgerrechtlich-demokratisch problematisch sein. Gemäß Walter
Benjamins bekannter Feststellung: daß es so weitergeht, darin besteht die
Katastrophe.
Vorwärtsverrechtlichung
und Informatisierung
Die
präventive Kehre und die Rezeption der Neuen Technologien durch die
Polizei haben seit Anfang der 70er Jahre erhebliche Änderungen
veranlaßt. Zum einen in der Organisation und in der Ausrüstung der
Polizeien. Zum anderen in dem, was wir
Vorwärtsverrechtlichung genannt haben. Unter
Vorwärtsverrechtlichung ist die Novellierung von Gesetzen bzw. sind neue
Gesetze zu verstehen, die polizeiliches Handeln
nicht
besser berechenbar machen, kontrollieren lassen und insgesamt begrenzen.
Vielmehr handelt es sich hier um rechtliche Regelungen, die mit Hilfe
unbestimmter Rechtsbegriffe und pauschal genannter Kompetenzen polizeiliches
Handeln der Chance nach entgrenzen, indem sie zugleich dessen Kontrolle schier
unmöglich machen.
Die
meisten rechtlichen Veränderungen wurden vor allem durch das
Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983
legitimiert und damit, daß dessen Datenschutzanforderungen entsprochen
werden müsse. Auf der Ebene des Bundes betraf dies u.a. die neuen
MAD- und BND-Gesetze (beide Einrichtungen wurden 1990 erstmals auf eine
gesetzliche Grundlage gestellt), das Bundesverfassungsschutzgesetz (novelliert)
und das BGS-Gesetz (novelliert). Ausbau und Kompetenzzuwachs des
Bundesgrenzschutzes war dabei weniger Folge des Volkszählungsurteils als
der deutschen Vereinigung. Hinzu kommen all die diversen Polizei- und
Gefahrenabwehrgesetze der Länder, die seit den 80er- und vor allem den
90er Jahren wie in den neuen Bundesländern , unbeschadet
der beträchtlichen Streuweite der Regelungen im einzelnen, alle einer
Logik folgen.
Diese
Logik der Landes- und Bundesgesetze besteht u.a.
Der
mehr oder minder sublime Zugriff auf Daten, die polizeilich zu
spezifischen Informationen bzw. Erkenntnissen transformiert
werden, diese sich ausweitende Polizeipolitik der informationell weichen
Hand, wird gerade in den Gefahrenabwehrgesetzen durch eine
Polizeipolitik der harten und unmittelbar auf Personen zupackenden Hand
ergänzt. Festnahmen, Platzverweise und dergleichen mehr werden bei
entsprechender Gefahrenerkenntnis personenpauschal unmittelbar praktizierbar.
Im neuartigen Zusammenspiel von informationeller und exekutiver Polizei, ja im
Verwischen der Grenzen zwischen beiden ein Verwischen, das technisch
mitbedingt ist kommt die präventive Logik als präventive
Repression oder, wie im OK-Bereich, als präventiv legitimierte
Menschenrechtsverletzung ohne direkten Effekt auf irgendeine Gefahrenabwehr am
deutlichsten zum Ausdruck.
Hintergründe und Ursachen
Wie
ist dieser Aus- und Umbau, im Zusammenhang dieses Heftes vor allem im Spiegel
der Überwachungstechnologien, zu erklären? Der Versuch, die
Warum-Frage aus dem Interesse der Polizei an sich selbst zu erklären,
führt nicht weit. Selbstredend gibt es dieses Interesse. Die diversen
Polizeitheoretiker sind rege. Die jahrzehntelangen Debatten um Innere
Sicherheit und ihr angemessenes System, um Verbrechensbekämpfung
und Prävention, um alle möglichen Terrorismen und ihre beste
Bekämpfung, um das, was nun in Sachen Europäisierung not tut und die
neuen Formen des organisierten, internationalen oder gar
transnationalen Verbrechens belegen, wie definitionsmächtig die
polizeiliche Seite ist.
Und
doch muß man vor allem im Umkreis etablierter Politik nach den Ursachen
suchen. Hinzu kommen sachliche Motive aus der gesellschaftlichen Entwicklung im
allgemeinen und der technischen im besonderen. Es ist die Politik der
gewählten Politikerinnen und Politiker, auf veränderte
gesellschaftliche Probleme vor allem auch dadurch zu re-agieren, daß sie
zur Inneren Sicherheit als einer Art Gestaltungsersatz Zuflucht
nehmen. Und Innere Sicherheit thematisieren, heißt fast
immer, die gesetzlich apparativen Chancen präventiv gerichteter Repression
oder repressiv gerichteter Prävention zu erhöhen.
Die
einschlägigen Kapitel etablierter Politik sind dicht bespickt mit
Anschauungsmaterial. Das Kapitel Deregulierung beispielsweise.
Deregulierung als spezifischer Abbau herkömmlicher staatlicher Leistungen
hat allemal ein erhöhtes Ausmaß an bürokratischer Regulierung
zur Folge. Allein um die noch und die nicht mehr Anspruchsberechtigten
auszusortieren. Letzten Endes wird Deregulierung in polizeilicher
Sicherung gefaßt. Diese Regulierung bleibt immer. Und sie bleibt
nötiger denn je, selbst wenn sie, ja gerade wenn sie teilweise in
privatisierter Sicherungsgestalt erfolgen sollte.
Ein
anderes Kapitel lautet schlagwortartig: Abbau sozialstaatlicher Leistungen. Von
Anfang an ist das, was Sozialstaat heißt, nicht nur
Sozialstaat,
sondern auch und vor allem Sozial-
Staat.
In der deutschen Geschichte wird dieser systematisch gegebene Umstand durch die
Gleichursprünglichkeit von Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung
illustriert. Die bürokratische
Form
des Sozialstaats ist Ausdruck seiner impliziten, auch funktional wirksamen
Polizeilichkeit. Dennoch war nicht zu verkennen, daß der
fortentwickelte Sozialstaat nicht nur die nackte kapitalistische Ökonomie
bekleidete, sondern auch den nackten Staat und sein Monopol mit
einer mehr oder minder dicken besänftigenden Filzschicht versah. Da die
doppelte Nacktheit heute in Zeiten der Globalisierung wieder krasser zum
Ausdruck kommt, ja bewußt befördert wird, werden herkömmliche
Repressionen wieder repressiver (am deutlichsten zu erkennen im Strafvollzug)
und werden neue repressiv-präventive Präsenzen erforderlich.
Deregulierung,
Abbau von sozialstaatlichen Leistungen,
ökonomisch-außerökonomische Entgrenzungen (und neue Formen der
Grenzbildung) haben einen zusätzlichen entgesellschaftenden
Effekt. Letzterer wird sozialwissenschaftlich kaum haltbar, indes umso
modischer auch als Individualisierung im positiven Sinne
hin zu einer unternehmerischen Wissensgesellschaft
[2]
gehandelt. In Zeiten, da das, was Gesellschaft ist, sich allem Begriff entzieht
und die
ungesellige
Geselligkeit
[3]
mehr denn je, zu dominieren scheint, gewinnen sicherheitspolitische Klammern
aus dem zeitgemäß modernisierten Arsenal des staatlichen
Gewaltmonopols an Faszination. Und gehe es zunächst nur darum, sich auf
den Fall der Fälle, auf neue streitbare Formen sozialer
Auseinandersetzungen vorzubereiten. All die Aufrüstungen in
Sachen Innerer Sicherheit, sind jedenfalls aus aktuellen Notlagen
und diesen entspringenden Not-Wendigkeiten nicht zu erklären.
Um-
und Aufrüstungen im Kontext
Wie
sind jene gut dokumentierten Veränderungen Innerer Sicherheit und ihrer
Apparte zu beurteilen? In den 70ern vermuteten wir, tief versenkt in die Logik
der Sicherheitsapparate und ihrer technischen Möglichkeiten
Herold-gleich, wennschon mit umgekehrtem Vorzeichen der bundesdeutsche
Staat und seine in ihm aufgehobene Gesellschaft seien auf dem besten schlechten
Weg zu dem, was wir Verpolizeilichung genannt haben. Das
bürokratiesprachliche Ungetüm sollte besagen, daß die auf- und
umgerüstete Polizei aus einer wichtigen Institution an den Rändern
staatlicher Existenz in das Zentrum des Staates zu dringen anhebe und sich von
dort aus über die gesamte Gesellschaft ausbreite. Dieser Logik des oder
doch eines Sicherheitsstaats (Joachim Hirsch) entsprach die
seither nicht geringer gewordene Tendenz zur restlosen
Erfassung (Götz Aly/Karl-Heinz Roth) aller sicherheitspolitisch
irgend relevanten Daten und deren entsprechende Gefahren identifizierende
Sortierung.
Unsere
damalige Hypothese war nicht falsch, aber sie war einseitig. Wir hatten uns mit
den Veränderungen der Polizei befaßt und wollten so etwas wie der
polizeilichen Eigenlogik auch in den neuen polizeilichen Techniken auf die Spur
kommen. Nur, wir versäumten den zweiten Schritt. Wir stellten die
polizeilichen Veränderungen in ihrer aktuellen und ihrer potentiellen
Bedeutung nicht in den Kontext von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit
bundesdeutscher Politik und Gesellschaft. Deshalb waren wir zu den angemessenen
Relativierungen nicht in der Lage.
Ein
zweites kommt hinzu. Wenn man über die Chancen und Grenzen, hier vor allem
die Chancen und Gefahren polizeilich zuhandener Überwachungstechniken
kritisch bürgerrechtlich, jedoch ohne angstvollen Alarmismus urteilen
will, dann muß man nicht nur die technischen Grenzen der Technik
beachten; dann muß man vor allem das Augenmerk auf die
sozialen
Grenzen technischen Wachstumslenken,
Grenzen, die den Techniken nicht einfach äußerlich sind, sondern die
in ihnen stecken.
Dieser
Einsicht gemäß in die sozialen Effekte der neuen
Technologien wie in die technologisch angelegten Chancen und Grenzen der
sozialen Übersetzung von Techniken ist Herolds Traum, und sind die
Albträume mancher Kritiker nicht zufällig gescheitert. Wer will
allein den Informationsmüll angemessen aussieben? Die Eigenart der
polizeilichen Organisation und die Eigenart ihrer dezisionistischen
Qualität entscheiden darüber, ob einigermaßen
valide Kriterien des Informationsgewinns aufgestellt werden. Damit wäre
indes die Verläßlichkeit der Informationsquellen und derer, die aus
ihnen schöpfen keineswegs gesichert.
Zu
den sozialen Grenzen technologischer Effekte kommen die (selbstredend
gleichfalls sozialen, obschon eher überwindbaren) institutionellen Grenzen
der Polizei und die institutionellen Grenzen von Staat und Gesellschaft der
Bundesrepublik bzw. im Zusammenhang internationaler Zusammenarbeit anderer
Staaten und ihrer Gesellschaften hinzu. Die Rezeption der
Informationstechnologie durch die Polizei beispielsweise ist mitnichten
perfekt. Und könnte sie dies sein, würde die Polizei unvermeidlich
hinsichtlich einer Reihe anderer Aufgaben versagen. Insoweit könnte es
allenfalls so etwas wie ein satisfying model (Herbert Simon)
geben, ein einigermaßen zufriedenstellendes Muster immanent
gesprochen , das erneut alle technologisch-technokratischen Träume
wie halbe Schäume erscheinen lassen müßte.
Diese
Relativierungen der möglichen und tatsächlichen Leistungen von
Technologien allgemein, der polizeilichen Überwachungstechnologien im
besonderen, sind freilich nicht dazu angetan, zu entwarnen. Die
Verstärkung herkömmlicher Verletzungen von Bürgerrechten durch
den Einsatz neuer Überwachungstechnologien und die technisch-polizeiliche
Konstruktion
neuer Verletzungsgefahren sind beträchtlich. Sie sind vor allem dort zu orten, wo Bürger- und Menschenrechte verletzt werden, ohne daß dies die Menschen, in deren Rechte eingegriffen wird, bemerken. Die Annahme, solche Verletzungen seien dann gleichgültig, wäre falsch. Zum einen muß nun jedermann und jede Frau solcher Gefährdungen ihrer Integrität gegenwärtig sein; zum anderen können die Eingriffe Folgen für den einzelnen zeitigen, ohne daß der- oder dieselbe sie auf die verletzte Integrität originär zurückführen könnte. Die
Ohnmacht der Bürgerinnen und Bürger wächst,
Aufgrund
der eingesetzten Informationstechnologie ergeben sich neue Geheimnisse des
Herrschens (arcana imperii) und neue Willkürlichkeiten.
Was
tun?
Zunächst
und zuerst gilt es aufs Neue
aufzuklären.
Die Entwicklung der Sicherheitstechnologien, hier derjenigen, die der
Überwachung dienen, und deren Rezeption und Verwendung durch die Polizei
sind argusäugig zu beobachten. Darum ist systematische Polizeiforschung
außerhalb der Polizei mit bürgerrechtlich demokratischer Brille mehr
geboten denn je. Darüber hinaus müßte in folgende Richtungen
gegangen werden, sind entsprechende Konzepte zu entwickeln bzw. dann praktisch
umzusetzen:
Zum
ersten sollte überall dort, wo irgend möglich, an der konservativen
Funktion rechtlicher Regelungen festgehalten werden. Das heißt, die Form
des Rechts hat dem Konzept des Konditionalprogramms zu entsprechen. Gerade
dort, wo es um mögliche Eingriffe in die bürgerliche Integrität
im weitesten Sinne, die bürgerlichen Freiheits- und Handlungschancen geht,
gerade dort müssen alle rechtlichen Regelungen überaus genau
ausfallen. Sonst schwinden im Namen angeblicher Gefahrenabwehr die
Rechtssicherheit und Freiheit aller Bürger und Bürgerinnen (wenn ich
von Bürgerinnen und Bürgern rede, meine ich immer die Rechte der
Ausländerinnen und Ausländer mit, die in Deutschland leben oder von
deutschen Maßnahmen betroffen werden). Mit anderen Worten: die Zunahme
unbestimmter Rechtsbegriffe, von Gleitklauseln aller Art, die zukünftige
Entwicklungen vorweg rechtsunmöglich einfangen wollen, ist zu stoppen.
Geltende Gesetze sind einer Generalkur der Entwillkürlichung
(pardon für diesen Ausdruck) zu unterziehen. Anders besteht die Gefahr,
daß das unbegrenzte Ermessen (Rütters über
Nazirecht und -justiz) in dem Scheine nach rechtsstaatlicher
Form gerade im Sicherheitsbereich weiteren Einzug hielte und in demselben das
Ende aller bürgerlichen Sicherheit bedeutete.
Zum
zweiten gilt es gerade um des Rechts willen, die Grenzen einzusehen, die
rechtlichen Regulierungen gegeben sind. Jedenfalls dann, wenn man die
Formbestimmtheit des Rechts und damit seine Berechenbarkeit und
Überprüfbarkeit ernstnimmt. Angesichts sich fortdauernd
verändernder Sachverhalte, und dies ist weithin im
wissenschaftlich-technologischen Zusammenhang der Fall, taugen rechtliche
Regelungen allenfalls als Rahmenbestimmungen und als Kriterien, um die
Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes jeweils abschätzen
zu können. Ansonsten bedarf es jedoch neuer Verfahrens-, und das
heißt meist Mitbestimmungs- oder doch Kontrollformen, damit das sich
dynamisch verändernde Problem nicht entgleitet oder es als rechtlich
pauschal formuliertes, letztlich exekutivisches Privileg übrig bleibe.
Zum
dritten sind endlich Konsequenzen aus den Schwierigkeiten, wenn nicht
Unmöglichkeiten des aktuellen Datenschutzes zu ziehen. Der Datenschutz
wirkt bestenfalls wie ein Netz, das über seinem Sinn nicht
gemäß gestaltete Bürokratien geworfen worden ist. Soll er mehr
als punktuell wirksam sein, ist ein Doppeltes vonnöten. Zum einen sind die
Verwaltungen selbst (öffentliche wie letztlich auch formell private)
datenschutzgemäß umzubauen. Neue Mitbestimmungs- und
Kontrollvorkehrungen sind vorzusehen. Zum anderen ist es höchste Zeit, in
der Bundesrepublik einen Freedom of Information Act zu
verabschieden, der Einsicht in Unterlagen der öffentlichen Verwaltungen
ermöglicht und damit die Voraussetzung zu deren Kontrolle schafft.
Diese
und andere Vorkehrungen gründlicher Reform erst gäben den
Bürgern und Bürgerinnen eine Chance, im Angesicht der geradezu
wildwüchsig vorangetriebenen Überwachungstechnologien
einigermaßen (rechts-)sicher zu sein. Sonst gilt mehr denn:
Wir
Bürger als Sicherheitsrisiko,
an Stelle der grundrechtlich demokratisch angemessenen Devise Sicherung
der Grund- und Menschenrechte aller Bürgerinnen und Bürger!
Wolf-Dieter
Narr lehrt Politologie an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von
Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] vgl.
neuerdings Schenk, D.: Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998; s.
Besprechung in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 59 (1/98), S. 97f.
[2] Der
zuletzt gebrauchte Ausdruck entstammt einem im Februar 1998 vorgelegten
Zukunftsgutachten der Freistaaten Sachsen und Bayern, das an
führender Stelle die Sozialwissenschaftler Miegel und Beck formulierten.
[3] Ein
Ausdruck Immanuel Kants; die Hervorhebung stammt von mir, WDN.
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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1998 HTML-Auszeichnung: Felix Bübl. Zuletzt verändert am 4. Oktober 1998. |