Bürgerrechte & Polizei/CILIP 61 (3/98) | |
Freiheit oder Sicherheit?
Demokratische Kontrolle polizeilicher Überwachung ein Beitrag aus französischer Sicht |
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von Frédéric Ocqueteau | |
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In
den Sozialwissenschaften, vor allem wenn sie sich im engeren Sinne mit den
Problemen der sozialen Kontrolle beschäftigen, herrscht ein impliziter
Konsens, daß die Begriffe Sicherheit und
Freiheit ganz selbstverständlich durch ein und
zu verbinden sind: Freiheit könne ohne Sicherheit nicht existieren und
umgekehrt. Angesichts neuer polizeilicher Techniken muß diese
vordergründige Selbstverständlichkeit hinterfragt werden. Nach der
Devise, den neuen Bedrohungen und Gefahren am Ausgang des
20. Jahrhunderts auch präventiv zu begegnen, nutzen Geheimdienste,
Polizeien und private Sicherheitsdienste die neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien. Die Freiheit soll polizeilich gesichert werden
im Zweifel auch gegen ihre TrägerInnen, die Bürgerinnen und
Bürger. Wie können angesichts dieser erweiterten inneren
Sicherheit die Freiheitsrechte verteidigt werden? Und vor allem: Wer
sind die Subjekte dieser Verteidigung?
Um
die Handlungen der BürgerInnen als Individuen, als Mitglieder sozialer
Gruppen oder als NutzerInnen von privaten und staatlichen Dienstleistungen
transparent werden zu lassen können Polizei und Sicherheitskräfte, so
zeigt eine parlamentarische Untersuchung aus dem Jahre 1995
[1],
aus mindestens vier verschiedenen Informationsquellen schöpfen:
Die
technischen Möglichkeiten der Ortung und Identifizierung von Personen sind
zweifellos gewachsen und effizienter geworden. Der Gebrauch dieser Technik
durch die Polizei offenbart um einen Begriff aus der EU-Debatte
aufzunehmen ein massives Demokratiedefizit.
Der
Kontrolle bedarf die Polizei insbesondere dort, wo sie präventiv, also
außerhalb des Strafverfahrens und damit jenseits der gerichtlichen
Kontrolle handelt. Gerade hier ist eine merkwürdige Mischung von
staatlicher Sicherheitswahrung und privater Sicherheit entstanden. Einerseits
sind die Überwachungstechnologien, von denen die staatliche Polizei in
wachsendem Maße Gebrauch macht, zu einem großen Teil aus dem
privaten Sektor entlehnt. Die Versicherungsunternehmen zwingen andererseits
mit staatlicher Unterstützung Privatpersonen und
Unternehmen, die sie als besonders gefährdet einstufen, zu ihrem
persönlichen Schutz und dem ihrer Güter und Informationen auf private
Sicherheitskräfte zurückzugreifen.
[3]
Auch öffentliche Behörden stellen mehr und mehr private
Wachunternehmen unter Vertrag. Gerade in den Städten und Gemeinden werden
die Domänen der öffentlichen und der privaten Sicherheit neu definiert.
Für
die polizeilichen und im Sinne der erweiterten inneren
Sicherheit auch die militärischen Bürokratien bleibt das
Sicherheitsdefizit auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die
vorherrschende Doktrin. Glaubt man ihnen, so steht die Welt vor neuen
äußeren und inneren Bedrohungen. Terrorismus und organisierte
Kriminalität, Hacker und Industriesabotage, illegale
Einwanderung und Asylbewerber (!), Drogenhandel und Geldwäsche die
diffusen neuen Gefahren und ihre Urheber werden zu einem kaum mehr
unterscheidbaren Amalgam zusammengerührt.
Zu
ihrer Bekämpfung bedienen sich die in supranationalen Netzen
zusammengeschlossenen Polizeien der neuen Informations- und
Kommunikationstechniken. Ihre Methoden gleichen denen von Marketingstrategien.
Unüberschaubare Mengen von Einzeldaten werden verknüpft und neu
gruppiert, um interessante Individuen und Personengruppen
auszusortieren. Statt Zielgruppen für den Verkauf definiert die Polizei
Risikopopulationen. Technische Verfahren entscheiden, wer gut
oder weniger gut ist, wer zu den BürgerInnen
erster oder zweiter Klasse gehören soll.
Knopfdrücker
und informationelle Analphabeten
Daß
die neuen Techniken zu Sicherheitszwecken benutzt werden, wird immer
häufiger kritisiert. Diese Kritik ist zu begrüßen, zumal der
Sicherheitszweck nicht für alle BenutzerInnen dieser Technik im
Vordergrund steht.
[4]
Wie allerdings kann verhindert werden, daß eine multifunktionale Technik
einseitig von der Polizei für ihre spezifischen Interessen annektiert
wird? Wie kann man insbesondere die Risiken der Verknüpfung der von der
Polizei gesammelten Daten mit denen anderer datensammelnder Stellen (private
Sicherheitsdienste, Banken, Versicherungsgesellschaften, Telekomfirmen,
Kreditinstitute, elektronische Geldsysteme usw.) beherrschen? Was können
ParlamentarierInnen, Organisationen fortschrittlicher JuristInnen,
Nicht-Regierungsorganisationen und unabhängige Verwaltungsbehörden
unternehmen, um die Freiheiten der BürgerInnen gegen Angriffe auf ihr
Privatleben zu schützen, gegen Methoden der Überwachung und der
Aufzeichnung von Daten aller Art? Auf welche Prinzipien und Normen können
die VerteidigerInnen der Freiheit ihre Aktionen mit Realismus (aber nicht ohne
eine gute Portion Idealismus) stützen? Wo sind ihre Bündnispartner?
Sie
werden wohl kaum Verbündete in jenen Teilen der Bevölkerung finden,
die darauf vertrauen, daß technische Ressourcen zu ihrem Schutz da sind,
die sich gar freiwillig der Selbstüberwachung stellen und sich
beispielsweise eine Wohnung in einem total überwachten Luxusghetto suchen.
Bevölkerungsschichten, die ganz einfach die Vorzüge der
domotique, der elektronischen Wohntechnik, und anderer
Spitzentechniken zur vorgeblichen Erleichterung des Alltags
(Fernunterstützung) nutzen, werden wenig Gedanken daran verschwenden,
daß die sicherheitsorientierten Aspekte dieser Techniken ihre Freiheit
beeinträchtigen könnten.
Für
einige NutzerInnen der Fernüberwachung, so zeigen erste Untersuchungen,
verändert sich allenfalls ihr Verhältnis zu dem sie umgebenden Raum.
Laut Akrich und Méadel bemühen sich die Hüter der
Festung, ihren Schutz gegen die benachbarte Welt grenzenlos weiter zu
verstärken. Die Knopfdrücker sehen in den technischen
Vorkehrungen nichts weiter als ein lästige elektronische Schlösser,
die sie eher selten verwenden. Eine veränderte Raumwahrnehmung ergibt sich
nur für die dritte Gruppe, für die Pragmatiker des
Lokalen, die ihr soziales Netz verstärken möchten. Techniken,
die sie als ihren Freiheitsraum begünstigend empfinden, lehnen aber auch
sie nicht ab.
[5] Unterstützung
wird es auch kaum bei den armen Schichten der Bevölkerung geben, die
selbst keinen Zugang zu den beschriebenen technischen Mitteln und auch kein
Bewußtsein für deren schädliche Wirkungen haben. Dabei werden
diese Teile der Bevölkerung, die von manchen bereits als neue
Analphabeten der Information und der Kommunikation beschrieben werden,
in allen städtischen Ballungsgebieten am stärksten überwacht,
sei es als AnwohnerIn oder als BenutzerIn öffentlicher Einrichtungen. Zwar
werden ihnen in Frankreich durch die jüngste Gesetzgebung bestimmte
Garantien zugestanden, doch zeigen die Ausführungsbestimmungen, daß
mehr an die private Verteidigung von Räumen gegen unbefugte oder einfach
auch unerwünschte Eindringlinge gedacht wurde, als an Verfahren zur
Verteidigung der Freiheit. Ideenreichtum hat der Gesetzgeber vor
allem bei den Beschränkungen gezeigt, die bei der Ausübung der
individuellen Freiheiten zu beachten sind.
Eine kleine, aber aktive Minderheit
Die
militants de la liberté, das dürfte klar geworden
sein, sind zwangsläufig aktive Minderheiten. Sie können sich nur auf
die Fraktionen der Bevölkerung stützen, die sich der Gefahren der
neuen Techniken bereits bewußt sind und die sich darauf eingestellt
haben, passiven oder aktiven Widerstand zu leisten. Es handelt sich dabei
erstens um BürgerInnen, die sich absichtlich abseits halten, und die
versuchen, keine persönlichen Daten zu offenbaren, die ohne ihr Wissen in
einen Datenverbund gelangen könnten. Ihr Kampf verdient Respekt, doch
sieht es eher so aus, daß dies ein Rückzugsgefecht ist. Ein diffuses
Mißtrauen der Mittelklasse erklärt vielleicht, warum ein Werkzeug
wie das Internet in Frankreich gegenüber anderen postindustriellen
Gesellschaften vergleichbarer Entwicklung noch sehr wenig verbreitet ist.
Eine
zweite Gruppe sind die überinformierten BürgerInnen,
die sich auf das von der Polizei okkupierte informationstechnische Terrain
begeben und die Verschlüsselung ihrer eigenen Kommunikation in den
Kommunikationsnetzen als wesentlichen Akt des Widerstands gegen das vom Staat
beanspruchte Monopol verstehen. Sie streben nach dem Nutzen und dem Genuß
maximaler Freiheit der Kommunikation. Für sie geht es darum, den
staatlichen Ansprüchen auf einen Schutz der BürgerInnen vor
sich selbst die Stirn zu bieten. Sie opponieren gegen eine neu-alte
Ideologie, die die BürgerInnen als Kinder behandelt, die nicht zur
Selbstkontrolle und zum verantwortungsvollen Gebrauch ihrer Freiheit in der
Lage seien.
[6]
Bei einem Teil dieser Minderheit hat sich der politisch libertäre
Einschlag inzwischen wieder gelegt.
Daneben
gibt es drittens die neuen KämpferInnen für die Freiheit. Sie agieren
im Interesse der Glaubwürdigkeit ihres Kampfes in der Legalität und
in der Öffentlichkeit und verfügen gegenüber den Exzessen der
Polizei nur über die Waffen des Rechts.
[7]
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als unermüdlich
mißbräuchliche Verwendungen der neuen Technologien durch die Polizei
anzuprangern. Die Ungleichheit der Gegner ist offensichtlich, der Kampf gleicht
dem zwischen David und Goliath.
Die
KämpferInnen für die Freiheit mögen das Verbot der Erfassung von
Daten über politische Meinungen von Arbeitnehmern oder anderen Gruppen
verteidigen oder die Rechtswidrigkeit der Fernüberwachung von privaten
Räumen (zum Beispiel von Umkleideräumen in Betrieben
[8])
betonen. Sie mögen daran erinnern, daß das Recht die Betreiber von
Videoüberwachungsanlagen verpflichtet, die Betroffenen darüber zu
informieren, daß sie ein Einsichtsrecht in analoge oder digitale
Bildaufzeichnungen in privaten Räumen mit Publikumsverkehr oder auf
öffentlichen Plätzen haben.
Für eine Umkehr der Beweislast
Das
Gewicht dieser zäh erkämpften Fortschritte und Schutzvorschriften
bleibt aber gering. Das Recht räumt nämlich nur Mittel ein, die
nachträglich verwendet werden können. Es ermöglicht
nachzuprüfen, ob die Sicherheitseinrichtungen zweckentfremdet oder mit dem
Vorsatz verändert wurden, die Privatsphäre zu verletzen. Die
Bedrohung der Freiheiten und die Verletzung der Privatshäre ergeben sich
jedoch nicht erst durch den Mißbrauch, sondern sind bereits im
systematischen Gebrauch angelegt.
Wer
der staatlichen Polizei, den privaten Sicherheitsdiensten und den
gemischtrechtlichen Auskunfteien technische Möglichkeiten zur Kontrolle
und Überwachung der BürgerInnen in die Hand gibt, muß auch eine
Umkehrung der Beweislast verlangen. Die Zuständigkeit für die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gibt den
Polizeibehörden die Möglichkeit, aufgrund von
Erkenntnissen, die sie durch den Gebrauch der Technik erlangt
haben, in die Freiheitssphäre der BürgerInnen einzudringen. Der
Nachweis des Mißbrauchs ist Sache des Betroffenen. Sie müssen den
Beweis erbringen, daß man ihnen einen Kredit oder eine Leistung
verweigert hat, weil Daten unrechtmäßig weitergegeben wurden oder
weil sie einer Risikogruppe zugeordnet wurden, ohne überhaupt zu wissen,
was die Kriterien dafür waren. Die Betroffenen können nur dann und
auch nur individuell Klage erheben, wenn sie davon Kenntnis erhalten, daß
bestimmte Aspekte ihres Privatlebens erfaßt und zu Sicherheits- oder
anderen Zwecken verarbeitet wurden und sie einer Kategorie verdächtiger
Personen zugeordnet werden. Es kommt daher mehr denn je darauf an, die
Kriterien und Kategorien zu kennen, nach denen staatliche und private Polizeien
vermittels ihrer Technik die Individuen einordnen und als Verdächtige
klassifizieren.
Damit
die Beweislast umgekehrt werden kann, bedarf es eines neuen
Verhältnismäßigkeitsprinzips, das die atomisierten Individuen
gegenüber der Macht der staatlichen und privaten Operateure der neuen
Techniken stärkt. Polizei und privaten Datensammlern muß
systematisch abverlangt werden, daß sie begründen, worauf sie ihren
jeweiligen Verdacht stützen. Sie müssen von vornherein die Kriterien
erklären und legitimieren, nach denen sie ein Individuum oder eine Gruppe
von Personen als verdächtig einordnen.
Die
Datenschutzrichtlinie der EU ist von diesem Ideal leider weit entfernt.
[9]
Sie soll sowohl auf automatisierte als auch auf manuelle Datensammlungen und
selbst auf Stimm- und Bilddaten (Video) angewendet werden. Doch hat die
Richtlinie nicht den Weg eingeschlagen, den man sich als DemokratIn
gewünscht hätte. Dort wo die Verarbeitung von Daten Fragen der
öffentlichen Sicherheit, der Landesverteidigung, der Staatssicherheit und
des Strafrechts berührt, soll sie nämlich nicht gelten. Mit anderen
Worten: Sie gilt praktisch nie. Was unter diese Kriterien fällt, wird von
den staatlichen Stellen selbst definiert. Im Namen der Staatsräson werden
derartige Erwägungen stets als letzter Ausweg vorgetragen werden.
Diese
große Beschränkung der Richtlinie ist nichts Neues. Sie
bestätigt letztlich nur, daß die polizeiliche Logik,
die sich auf die Sicherheit beruft, stets Vorrang vor der demokratischen
Logik hat, nach der die Freiheiten zu verteidigen sind. Die
europäischen Demokratien haben das Prinzip der Grenzen der Freiheit in
einem ausgesprochen restriktiven Sinne akzeptiert. Sie haben sich einreden
lassen, daß es Bedrohungen gäbe, die noch erschreckender seien als
die phantastischen Mittel zu ihrer Bekämpfung, über die die Staaten
der Europäischen Union heute verfügen.
Frédéric
Ocqueteau ist Sozialwissenschaftler des Centre Nationale de Recherches Sociales
(CNRS) und zur Zeit Forschungsdirektor des Institut des Hautes Études de
la Sécurité Intérieur (IHESI), einer Forschungseinrichtung
des französischen Innenministeriums
[1] Sérusclat,
F.: Les nouvelles techniques d'information et de communication: l'homme
cybernétique? Office parlementaire d' évaluation des choix
scientifiques et technologiques, Assemblée Nationale
Sénat, 1995
[2] Der
daraus erwachsenden Gefahren wurde man sich in Frankreich erstmals 1993 im
Rahmen der OM-Valenciennes-Affäre bewußt, als das Hauptalibi eines
Verdächtigen dadurch zunichte gemacht wurde, daß der Ausgangsort
eines Telefongesprächs ermittelt werden konnte.
[3] Zwei
Verordnungen vom 15. Januar 1997 schreiben überfallgefährdeten
Privatpersonen und Unternehmen vor, Sicherheitsdienste in Anspruch zu nehmen
und/ oder Videokameras zu installieren. Dies betrifft bestimmte Geschäfte,
Juwelierläden, Banken, Apotheken, Werkstätten und Parkplätze.
[4] Zu
den verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten am Beispiel der Video- oder
Fernüberwachung siehe u.a. Heilmann, E.; Vitalis, A.: Nouvelles
technologies, nouvelles régulations?, Gersulp-Pirvilles-IHESI, Paris
1996; Ocqueteau, F.; Heilmann, E.: Droit et usages des nouvelles technologies
les enjeux d' une réglementation de la vidéosurveilance,
Droit et société, 1997
[5] vgl.
Akrich, M.; Méadel, C.: Anthropologie de la
télésurveillance en milieu privé, Paris 1996
[6] s.
Guisnel, J.: Services secrets et Internet, Paris 1995
[7] In
Frankreich das Datenschutzgesetz von 1978, die beiden
Verschlüsselungsverordnungen von 1986 und 1992, das Datenbetrugsgesetz von
1988 und das Telekommunikationsgesetz von 1990.
[8] Eingriffe
in die Freiheit von Angestellten sind in Unternehmen gang und gäbe, unter
anderem durch Videoüberwachung, interne Telefonvermittlungen, Magnetkarten
und firmeninterne Computernetze.
[9]
Richtlinie 95/46/EG des Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995
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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1998 HTML-Auszeichnung: Felix Bübl. Zuletzt verändert am 31. Dezember 1998. |