Bürgerrechte & Polizei/CILIP 61 (3/98) | |||||||||||||||||||
Polizeilicher
Schußwaffengebrauch in Frankreich
Vertrauliche Dokumente und polemische Auseinandersetzungen |
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von Fabien Jobard | |||||||||||||||||||
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Ein
französischer Polizist hat einen marokkanisch-stämmigen
Niederländer während des Polizeigewahrsams gefoltert, so
erklärte die Europäische Menschenrechtskommission in einem seltenen
und daher besonders bedeutenden Urteil Ende vergangenen Jahres.
[1]
Vom Anti-Folter-Ausschuß des Europarats wurde die französische
Polizei wiederholt der Körperverletzung und erniedrigenden Behandlung von
Festgenommenen beschuldigt.
[2]
Polizeigewalt und insbesondere Schußwaffengebrauch sind in Frankreich
Gegenstand ständiger Konflikte und Polemiken. Der Autor hatte Zugang zu
vertraulichen Akten der Police Nationale, die zwar keine abschließende
Analyse der politischen und sozialen Hintergründe ermöglichen, wohl
aber exaktere Daten über den Schußwaffeneinsatz und seine Folgen
liefern.
Ähnlich
wie in Italien, Spanien oder Belgien ist auch die französische
Polizeilandschaft zweigeteilt: In den Städten über 10.000 Einwohnern
sorgt die zum Innenministerium gehörende Police Nationale für die
innere Sicherheit. Die dem Verteidigungsministerium
organisatorisch unterstellte Gendarmerie ist nur für den ländlichen
Raum zuständig. Die hier vorgestellten Daten beziehen sich
ausschließlich auf die Police Nationale, der insgesamt ca. 120.000
Beamten angehören. Davon arbeiten 18.000 in Paris und den drei ebenfalls
der Pariser Polizeipräfektur unterstellten umliegenden Departements.
Die
rechtlichen Grundlagen für den polizeilichen Schußwaffeneinsatz in
Frankreichbestimmen, daß Polizisten (und Gendarmen) grundsätzlich
nur in Fällen der Notwehr und Nothilfe auf Personen schießen
dürfen. Zur Drohung abgegebene Schüsse, Schüsse auf
Flüchtende oder zur Wiederergreifung einer Person sind unzulässig.
Eine gesetzliche Regelung über den finalen
Rettungsschuß wie im deutschen Polizeirecht gibt es in Frankreich
nicht. Bei Geiselnahmen oder ähnlichen Fällen kann es zwar dazu
kommen, daß die Sondereinheit R.A.I.D. auf Anordnung schießt und
dabei mit ziemlicher Sicherheit die betreffende Person tötet. Derartige
Einsätze werden aber als Nothilfe gerechtfertigt und sind selten. Die
meisten Schüsse werden im alltäglichen Einsatz abgegeben.
Die veränderte Rolle der Polizei
Die
Rolle der Polizei bei der Regulierung alltäglicher Konflikte ist in den
vergangenen Jahren aus mehreren Gründen problematischer geworden: Zum
einen bekommt die Polizei es mit den Folgen der gaullistischen Stadtplanung aus
den 60er und 70er Jahren zu tun. Deren Resultat war die Konzentration der
verarmten Familien von eingewanderten Arbeitern in den Wohnsilos der Vororte,
wo Konflikte und Gewalt durch die räumliche Dichte und die
Wirtschaftskrise noch verstärkt wurden. Die Kriminalpolizei, aber vor
allem die uniformierte Polizei sieht sich häufig mit bedeutenden
Ordnungsstörungen von kollektiven
Sachbeschädigungen über gewaltsame Konflikte zwischen Personen bis
hin zur Gewalt gegen Repräsentanten des Staates konfrontiert. Sie
prägen das alltägliche Leben der banlieues.
[3]
Einen
zweiten Aspekt bildet die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung. Demonstrationen sind ein zentrales Mittel der politischen
Beteiligung in Frankreich. Die in Paris zentralisierte politische Macht
reagiert jedoch äußerst sensibel auf jede Form der gewaltsamen
Infragestellung, so unbedeutend die dabei angewendete Gewalt auch sein mag.
Für die Polizei resultiert daraus die Verpflichtung zu zahlreichen und
kostspieligen Einsätzen, bei denen der kleinste Fehler unvorhersehbare
politische Konsequenzen nach sich ziehen kann.
[4]
Zu
diesen beiden Faktoren kommt die Problematik des Rassismus hinzu. Sowohl in der
Gesellschaft als ganzer, als auch in der Polizei taucht das Phänomen
Rassismus nicht erst in den letzten Jahren auf. Im Laufe des Prozesses gegen
den früheren Pariser Polizeipräfekten Maurice Papon bestätigten
sich die seit langem vorhandenen Berichte, daß die Pariser Polizei am 17.
Oktober 1961 mehr als 150 Algerier tötete. Dieses Massaker ist bisher
nicht Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen gewesen. Der Algerien-Krieg von
1954-62 hat den Rassismus in der Tat massiv befördert.
[5]
In der aktuellen Diskussion um Einwanderung und die Situation in den
Vorstädten erhält die Problematik des Rassismus ein neues Gewicht.
Ballungsraum Paris und Provinzstädte
Zwar
wird bei der französischen Polizei bei jedem einzelnen
Schußwaffeneinsatz eine Akte angelegt, diese ist allerdings vertraulich.
Statistiken und Presseerklärungen, wie sie die Innenministerkonferenz in
Deutschland jährlich vorlegt, gibt es in Frankreich nicht. Die im
folgenden präsentierten Daten entstammen internen Dokumenten der Police
Nationale, um deren Einsicht der Autor zweieinhalb Jahre gekämpft hat. Im
Gegenzug mußte er ein Papier unterschreiben, das ihn verpfichtet, die
Dokumente nicht weiterzugeben und auch nicht zu zitieren. Diese Art der
Geheimhaltung ist typisch für den Umgang der Polizeibehörden mit
Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit im allgemeinen.
[6] Die
Daten beziehen sich auf Schußwaffeneinsätze der Police Nationale
außerhalb der Pariser Präfektur von 1990 bis 30.9.1996 sowie in der
Region Paris in der Zeit von 1989 bis 31.3.1994. Außerhalb der Region
Paris schossen Polizeibeamte durchschnittlich dreimal pro Monat. Das ergibt
einen Jahresdurchschnitt von 0,25 Schüssen pro 1.000 Beamte.
Im
Gebiet der Pariser Polizeipräfektur gaben Polizeibeamte im
Untersuchungszeitraum durchschnittlich 3,65 Schüsse pro Monat ab.
Berechnet auf 1.000 Beamte ergibt dies einen Jahresdurchschnitt von 0,6
Schüssen. Die Häufigkeit des polizeilichen Schußwaffeneinsatzes
liegt damit in Paris und Umgebung mehr als doppelt so hoch wie in der Provinz.
Auch
die Folgen sind gravierender: In der Provinz waren 1990-96 2% der polizeilichen
Schüsse tödlich und 5% führten zu Verletzungen von Personen
(insgesamt 48 Tote und 121 Verletzte). In der Region Paris dagegen ergaben sich
1989 bis 1994 Quoten von 4,35% Toten und 50% Verletzten (insgesamt 10 Tote und
128 Verletzte).
Bevölkerungsgröße
und Zahl der Polizeibeamten in Rechnung gestellt zeitigen Schüsse aus
Polizeiwaffen in den USA 15-20mal häufiger tödliche Folgen als in
Frankreich. Vergleicht man die hier für Frankreich präsentierten
Daten mit denen, die die IMK für Deutschland veröffentlicht, so zeigt
sich zunächst ein vergleichbares Niveau beider Länder in bezug auf
die Häufigkeit des Schußwaffeneinsatzes. Die Todesrate von 0,5% in
Deutschland liegt allerdings viermal niedriger als in der französischen
Provinz. Der Unterschied zwischen den französischen Provinzstädten
und dem Ballungsraum Paris mit einer doppelt so hohen Häufigkeit
des Schußwaffeneinsatzes, einer doppelt so hohen Mortalität und
einer zehnfach größeren Gefahr der Verletzung wird dadurch
nur um so deutlicher.
Da
die Daten aus derselben Verwaltung stammen, kann diese Differenz nicht auf
einen unterschiedlichen Erfassungsmodus zurückgeführt werden. Die
größere Bevölkerungsdichte der Region Paris und die damit
verbundene höhere registrierte Kriminalität ist ohne Zweifel ein
wichtiger Faktor der Erklärung, der allerdings vor dem Hintergrund
sozialer, ethnischer und räumlicher Bedingungen gesehen werden muß.
Straftäter
als Opfer Kriminalität als Legitimation?
Die
überwiegende Mehrzahl der Schüsse wird in Situationen abgegeben, bei
denen die Polizei eine Straftat aufdeckt oder verhindern soll. Geschossen wird
auf Personen, die an einer solchen Situation beteiligt sind. Aus polizeilicher
Sicht ist es daher in der Tat die Kriminalität, die den
Schußwaffengebrauch durch Polizeibeamte erklärt. Allerdings
produziert die Polizei sowohl die Daten über Straftaten und -täter,
als auch die über den polizeilichen Schußwaffengebrauch. Es stellt
sich daher die Frage: Schießen Polizeibeamte auf Straftäter, weil
sie von ihnen bedroht wurden oder sich bedroht fühlten oder greifen
sie im Gegenteil im Vorhinein zur Waffe, wenn sie es mit einer bestimmten
Gruppe von Straftätern zu tun haben?
In
der Mehrzahl aller Fälle polizeilichen Schusswaffengebrauchs sind es
uniformierte Polizisten, die schießen. Drei Viertel der in den
untersuchten Dokumenten der Pariser Präfektur festgehaltenen
Schußwaffeneinsätze ereigneten sich in der Nacht, am Wochenende und
im öffentlichen Raum. Sie richteten sich gegen Männer im Alter von
30-40 Jahren. Dies allein sagt aber noch nichts über die Legitimität
der eingesetzten Gewalt aus. Die Dokumente der Polizeipräfektur zeigen
jedoch ebenfalls,
Nach
Angaben der betreffenden Polizisten waren 71% der Opfer im Augenblick des
Schußwaffeneinsatzes bewaffnet. Jedoch nur in einem Drittel der
Fälle war diese Waffe eine Schußwaffe. Damit eine gewaltsame
Handlung aber als Notwehr gewertet werden kann, muß sie der Gefahr
angemessen sein. Die Präfektur wertete 80% aller polizeilichen
Schüsse als gerechtfertigt. Die polizeieigenen Daten belegen jedoch auch,
daß 10% der Schüsse zur Warnung oder Einschüchterung abgegeben
wurden und weitere 5% Unfälle waren. Mindenstens diese 15%
waren damit juristisch gesehen ungerechtfertigt. Dieser Anteil erhöht
sich, wenn man die Fälle von unangemessenen Reaktionen hinzurechnet, bei
denen Angriffe mit einem Messer durch den Einsatz der Schußwaffe
abgewehrt werden sollten.
Justitielle
und polizeiliche Dokumente sind mit Vorsicht zu genießen, vor allem wenn
die Akteure der Behörden selbst Gegenstand von Ermittlungen sind. Dennoch
erscheinen die hier ausgewerteten Quellen relativ zuverlässig. Zum einen
wurden die Dokumente für den internen Gebrauch und nicht für die
Rechtfertigung nach außen erstellt. Zum andern halten sie auch einem
Vergleich mit Pressemeldungen stand, denn nur ein Bruchteil der in den
polizeilichen Dokumenten aufgeführten Fälle fand Eingang in die
überregionalen Zeitungen.
Verletzte
und Tote aufgrund polizeilicher Schüsse in Paris 1989-93
Die ethnische Seite der polizeilichen Gewalt
Obwohl
Presseberichte nur eine reduzierte Zahl von Fällen aufgreifen, geben sie
dennoch Hinweise auf die ethnische Zugehörigkeit der Opfer polizeilicher
Todesschüsse. Diese Information ist in Polizeiberichten nur dann
enthalten, wenn das Opfer keinen französischen Paß hatte. Denn im
Unterschied zu Deutschland besitzen Personen, die in Frankreich geboren wurden,
grundsätzlich die französische Staatsangehörigkeit.
Eingebürgerte Immigranten und deren in Frankreich geborene Kinder fallen
daher in Polizeiberichten nicht auf. In Presseartikeln kann dagegen sehr wohl
vermerkt sein, daß das Opfer beispielsweise maghrebinischer Herkunft ist.
Der Hinweis auf die Staatsangehörigkeit fehlt hier dagegen häufig.
Eine
Analyse der überregionalen Presse von 1986-1993 ergibt, daß
Immigranten und Immigrantensöhne (keine Töchter!)
überproportional unter den Opfern der gemeldeten polizeilichen
Todesschüsse vertreten sind. In 30 Fällen das ist ein Drittel
aller Todesschüsse (Paris und Provinz) enthalten die
Presseberichte Hinweise auf ausländische Abstammung oder
Nationalität. Die größte Gruppe bilden mit elf Fällen die
Personen arabischer Herkunft. Dieser hohe Anteil von Immigranten unter den
Todesschuß-Opfern entspricht weder ihrem Anteil an der
Gesamtbevölkerung, noch an der Zahl der wegen Gewaltdelikten verurteilten
Personen.
[7]
Zwar ergeben die Pressemeldungen nur eine dünne statistische Basis. Die
Tatsache jedoch, daß die gemeldeten Fälle meist besonders bedeutsame
oder dramatische sind, verstärkt den Eindruck, daß polizeiliche
Gewalt und ethnische Diskriminierung zusammen gesehen werden müssen.
Quantitative
Auswertungen über den Schußwaffengebrauch der Polizei und besonders
seine tödlichen Folgen haben nur eine begrenzte Aussagekraft, zum einen
weil es sich bei den in Frage stehenden Vorgängen und ihrer Bewertung
nicht um feststehende statistische Größen handelt, zum andern weil
glücklicherweise die Zahl der Todesschüsse
verhältnismäßig gering ist. Für genauere qualitative
Aussagen braucht es nicht nur mehr Forschung, sondern vor allem ein Ende der
Geheimhaltung.
Fabien
Jobard ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre d'études des
relations internationales (Paris) und des Centre Marc Bloch (Berlin). Eine
genauere Darstellung des Themas findet sich in seiner Dissertation: L'usage de
la force par la police. Sur quelques aspects de la mise en oeuvre du monopole
de la violence physique légitime par la police nationale dans la France
contemporaine. Der erste Teil dieser Arbeit erscheint demnächst beim
Verlag LHarmattan in Paris
[1] Az.:
25803-94 v. 11.12.97, Selmouni gegen Frankreich
[2] Council
of Europe, European Council for the Prevention of Torture and Inhuman or
Degrading Treatment or Punishment, C.P.T./Inf (98) 8, /Inf (98) 7 and /Inf (93)
14
[3]
Body-Gendrot, S.: Ville et violence. L'irruption de nouveaux acteurs, Paris
1995
[4]
Fillieule, O.; Jobard, F.: Policing of Protest in France, in: Della Porta, D.;
Reiter, H. (eds.), Contemporary Democracies and Mass Demonstrations,
Minneapolis 1998, S. 70-90
[5]
Einaudi, J.-L.: La bataille de Paris. 17 octobre 1961, Paris 1991; Gaiti, B.:
Les ratés de l'histoire, in: Sociétés contemporaines, No.
20, Dez. 1994, S. 11-37
[6]
Monjardet, D.: Le chercheur et le policier, in: Revue française de
science politique, Apr. 1997, S. 211-225
[7]
Tournier, P.; Robert, P.: Étrangers
et délinquants, Paris 1991
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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1998 HTML-Auszeichnung: Felix Bübl. Zuletzt verändert am 31. Dezember 1998. |