Bürgerrechte & Polizei/CILIP 61 (3/98) | |
Smile, you re on camera
[1]
Flächendeckende Videoüberwachung in Großbritannien |
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von Clive Norris und Gary Armstrong | |
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In
keinem Land Europas haben sich Videoüberwachungssysteme so durchgesetzt
wie in Großbritannien. Ohne rechtliche Schutzvorkehrungen hat sich in den
90er Jahren eine regelrechte Lawine von Überwachungskameras über
U-Bahnen, Einkaufszentren und Straßen der Innenstädte ergossen. Der
behauptete Nutzen für die Kriminalprävention ist zweifelhaft, die
Gefahren für die Bürgerrechte liegen dagegen auf der Hand.
Vor
40 Jahren gab es in Großbritannien noch keine
Videoüberwachungssysteme im öffentlichen bzw. öffentlich
zugänglichen Raum. Erst ab 1967, als Photoscan als erste
Firma die Installation von Kameras als Mittel gegen Ladendiebstahl vermarktete,
wurden diese mehr und mehr zu einem gebräuchlichen
Ausrüstungsgegenstand in Läden und Geschäften. In den beiden
folgenden Jahrzehnten war der Einsatz von Videoüberwachungsanlagen im
wesentlichen auf den Einzelhandelssektor beschränkt. Der erste dauerhafte
und systematische Einsatz von Überwachungskameras für
kriminalpräventive Zwecke außerhalb des Handels begann 1975, als die
Londoner Verkehrsbetriebe Videoanlagen in zunächst drei U-Bahnhöfen
einbauten, um ihre Angestellten gegen Raubüberfälle und andere
Angriffe zu schützen. Auf den Straßen waren es eher Verkehrsstaus
als Kriminalitätsprobleme, die ursprünglich den Anstoß zur
Installation von Kameras gaben. 1974 wurden bei einem Versuch, den
Verkehrsfluß in Londons Straßen zu beschleunigen, 145 Kameras zur
Überwachung der großen Verkehrsadern der Hauptstadt aufgebaut.
Allerdings realisierte die Polizei schnell, daß das System auch für
die Kontrolle von politischen Demonstrationen verwendet werden konnte.
[2]
Dennoch blieben Videoanlagen im öffentlichen und semi-öffentlichen
Bereich auch in den 80er Jahren eher Einzelerscheinungen, die auf spezifische
lokale Probleme ausgerichtet waren. Obwohl die Idee der kameragestützten
Überwachung an Boden gewann, war man von einer flächendeckenden
Überwachung noch weit entfernt.
Zur
Kriminalpräventionsinitiative des Jahrhunderts avancierte
die Videoüberwachung und die damit verbundene Kontrolle auch der
DurchschnittsbürgerInnen erst in der zweiten Hälfte der 90er
Jahre. 1995 wurden 78% des für Kriminalprävention vorgesehenen
Budgets des Innenministeriums für die Finanzierung von
Videoüberwachungsprojekten ausgegeben.
[3]
Diese 37 Mio. £ stellen allerdings nur die Zuschüsse der nationalen
Regierung dar. Weiteres Geld floß von den Kommunen und in geringerem
Umfang von der Privatwirtschaft. Schätzungen gehen davon aus, daß
seit 1993 einige 100 Mio. £ in erster Linie aus öffentlichen
Haushalten Großbritanniens für den Aufbau von
Videoüberwachungssystemen ausgegeben wurden.
[4] Resultat
dessen war ein exponentielles Wachstum innerstädtischer
Videoüberwachungsprogramme in den Jahren 1990 bis 1998. Bereits 1994 waren
aus einer Handvoll Pilotprogrammen 79 Implementationen geworden; und schon 1996
rühmten sich alle Städte über 500.000 Einwohner mit Ausnahme von
Leeds solcher Anlagen in den Innenstädten. Zwischen 1994 und 1998
verfünffachten sich die Innenstadtprogramme. Die auf Angaben des
Innenministeriums, lokaler Behörden und der Polizei basierende
Bestandsaufnahme von Goodwin u.a. hielt im Januar 1998 fest, daß
wenigstens 440 zuschußfinanzierte
Innenstadtüberwachungsprogramme im Betrieb sind. (...) Während diese
Programme noch 1994 im wesentlichen auf die großstädtischen Bereiche
beschränkt waren, haben sie sich bis 1998 auch auf die mittleren und
kleineren Städte ausgedehnt.
[5]
Dabei wurden nicht einmal jene Systeme, die ohne Regierungssubventionen
finanziert wurden (wie die in Glasgow oder Doncaster), mitgezählt.
Von
dieser massiven Expansion ist aber nicht nur der öffentliche Raum von
Innenstädten und Einkaufsstraßen betroffen. Überwachungskameras
sind heute fester Bestandteil des Verkehrswesens: Tausende Kameras wurden zur
Überwachung von Autobahnen, Bahnsteigen, Bahnhofshallen sowie See- und
Flughäfen installiert. Anfang der 90er begann ein umfassendes Programm zur
Ausstattung der 250 Londoner U-Bahnhöfe mit Kameras. Im März 1996
hatte allein die Firma Sony schon 5.000 Geräte installiert. Die 55 km
lange Zentrallinie, durch deren 34 Stationen jährlich 166 Mio. Passagiere
geschleust werden, wird von 500 Kameras überwacht, die von einem zentralen
Kontrollraum aus gesteuert werden. Zur Kontrolle von Firmengeländen,
Räumlichkeiten und Mitarbeitern hat auch die Privatwirtschaft ihre
Investitionen in Sachen Videoüberwachung ausgedehnt. Selbst in
Krankenhäusern, Schulen und sogar Kindergärten trifft man immer
häufiger auf Kameras.
[6] Kurz
gesagt: für die überwiegende Mehrheit der BritInnen ist es
unmöglich geworden, ihren täglichen Geschäften nachgehen zu
können, ohne durch Überwachungskameras beobachtet zu werden.
EinwohnerInnen einer belebten Großstadt müssen damit rechnen,
daß ihr Bild im Laufe des Tages buchstäblich von Dutzenden
Überwachungssystemen diskret eingefangen und aufgezeichnet wird. Sollten
BürgerInnen, KundInnen oder Angestellte jedoch etwas gegen diese Praxis
einwenden wollen oder nach Datenschutzbestimmungen fragen, werden sie
feststellen müssen, daß es kaum Beschwerdeverfahren oder rechtliche
Schutzbestimmungen über die Verwendung des aufgezeichneten Materials gibt.
Fehlende rechtliche Regulierung
Anders
als in Deutschland, wo gerade die Verrechtlichung den polizeilichen
Überwachungsmethoden zu mehr Legitimität verhalf und ihre Ausbreitung
förderte, profitierten diese in Großbritannien vom Verzicht auf
jegliche Regelung. Es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen über
Videoaufnahmen im öffentlichen Raum, keine Registrierung oder Lizensierung
der dafür gebrauchten Systeme, keine einklagbaren Normen über die
Nutzung solcher Geräte oder andere Verpflichtungen für die Betreiber.
[7] Darüber
hinaus fehlt im britischen Rechtssystem generell ein Anspruch auf den Schutz
der Privatsphäre bzw. ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wer
sich über Videoaufzeichnungen durch Polizei oder kommunale Behörden
beschweren will, muß auf wenig erfolgversprechende rechtliche
Hilfskonstruktionen wie unerlaubtes Betreten,
Belästigung, Diffamierung oder den Schutz der
Urheberrechte am eigenen Bild zurückgreifen.
[8]
Wegen des fehlenden rechtlichen Schutzes der Privatsphäre sah sich
kürzlich der Londoner High Court außerstande, gegen einen Stadtrat
einzuschreiten, der Videomaterial, auf dem der Selbstmordversuch eines Mannes
auf einer Straße dokumentiert war, an die Medien weitergegeben hatte.
[9]
Selbst wenn das (sich in der Beratung befindliche) Datenschutzgesetz Verwendung
und Weitergabe von Informationen über identifizierbare Personen
stärker limitieren sollte, werden auch in Zukunft weitreichende Ausnahmen
für die Sicherheitsbehörden gelten.
[10] Effizienz
der Videoüberwachung
Videoüberwachungskameras
haben bewiesen, daß sie funktionieren; deshalb brauchen wir mehr davon
dort, wo die Kriminalität hoch ist, so erklärte der
Premierminister 1994.
[11]
Für diese Überzeugung gab es jedoch keine schlüssigen Beweise.
Die Investitionen wurden getätigt und die Anlagen installiert, bevor deren
Effizienz systematisch untersucht war.
[12]
Die methodologisch akzeptablen Befunde bis zum Jahre 1994 gingen auf wenige
kleinere Evaluationsstudien zurück, die eher widersprüchliche
Ergebnisse gezeitigt hatten.
[13]
Trotz der enorm hohen Investitionen steht eine seriöse und
unabhängige Langzeitstudie nach wie vor aus.
Die
von den Befürwortern der Technologie angeführten Belege kamen nicht
von professionellen und unabhängigen Gutachtern, sondern entstammten
ärmlichen ad-hoc Bemühungen unqualifizierter und
eigennütziger Praktiker.
[14]
Dramatische Erfolgsstories aus den frühen 90er Jahren über die
Städte, die Videoüberwachung eingeführt hatten, wurden zum Teil
des Mythos: Kings Lynn habe bei Kfz-Vergehen einen Rückgang von 97%,
Airdrie einen von 95% erreicht, Newcastle führte Hunderte von Verhaftungen
auf die neue Technik zurück. Behauptungen wie diese fanden Eingang in
Werbebroschüren der Hersteller und Finanzierungsanträge der lokalen
Behörden. Die Medien stürzten sich auf Nachrichten über die
neue, wunderbare Technik.
Die
anfänglichen Erfolgszahlen basieren allerdings nur auf
Rohdaten über Kriminalität. Jahreszeitlich bedingte
Schwankungen der registrierten Kriminalität und Verdrängungseffekte
aus den überwachten Zonen an andere Orte einer Region wurden nicht
überprüft. Solche Daten waren schlicht bedeutungslos und wurden durch
nachfolgende Studien zu einem großen Teil revidiert. So hatte etwa der
lokale Polizeichef von Airdrie 1993 erklärt, die Kriminalität sei
insgesamt um 74% zurückgegangen, und die Aufklärungsquoten
hätten sich nahezu verdreifacht.
[15]
Diese Zahlen wurden von den Medien verbreitet und auch der Innenminister berief
sich darauf.
[16]
Die zwei Jahre später veröffentlichte unabhängige
Evaluationsstudie kam zu anderen Ergebnissen: Tatsächlich registrierte die
Polizei nach Einführung der Videoüberwachung weniger Straftaten. Der
Rückgang betrug aber nicht 74, sondern nur 21%; die Aufklärungsquote
stieg nur um ein Sechstel statt um ein Drittel.
[17]
Auch ohne Aufblähung durch Medien und PR sind diese Zahlen beachtlich,
insbesondere weil keine Verdrängungseffekte nachgewiesen werden konnten.
Die
Befunde anderer unabhängiger Studien von größeren
Innenstadtprogrammen sind weniger eindeutig. Die Studie des Innenministeriums
zum System in Newcastle unterstützt am ehesten die Ergebnisse aus Airdrie.
Die registrierten Straftaten waren hier um 19% zurückgegangen. Bei den
Ordnungsstörungen war allerdings keine Veränderung festzustellen, der
Effekt der Kameras auf bestimmte Vergehen nahm außerdem nach einer
gewissen Zeit wieder ab.
[18]
Squires und Measors konnten für Brighton lediglich einen Rückgang der
registrierten Kriminalität um insgesamt 10% nachweisen, und entgegen den
Behauptungen, daß die Videoüberwachung den Bezirk zu einem
der sichersten in ganz Großbritannien mache, stiegen die
Gewalttaten sogar um 1% an. Ferner gab es Hinweise auf einen
Verdrängungseffekt.
[19]
Doncaster verzeichnete einen Rückgang der registrierten Kriminalität
um 6%. Nachdem in der Innenstadt die Kameras installiert waren, stiegen
allerdings die verzeichneten Delikte in den Außenbezirken zum Teil um 31%
an.
[20]
Eine Studie des Innenministeriums zum Videoüberwachungsprogramm in der
Innenstadt von Birmingham kam zu dem Schluß, daß das Kamerasystem
das allgemeine Kriminalitätsniveau in der Innenstadt nicht reduzieren
konnte: Raubüberfälle und Diebstähle an Personen stiegen ebenso
wie Diebstähle aus Kraftfahrzeugen. Auch hier wurde eine Verlagerung in
umliegende Bezirke erkannt.
[21]
Für Sutton wurde eine 13%ige Abnahme der Kriminalität in den
überwachten Bereichen verzeichnet, die Rate im gesamten Verwaltungsbezirk
verringerte sich sogar um 29%. Schlägereien konnten dagegen nur wenig
eingedämmt werden. Diebstähle (ohne Ladendiebstahl) verlagerten sich
von den überwachten Straßen hin zum Inneren von Verkaufszeilen.
[22] Insgesamt
gesehen deuten die Ergebnisse sorgfältiger Studien darauf hin, daß
Videoüberwachung tatsächlich ein Instrument der
Kriminalprävention darstellt, daß sie aber nur eine begrenzte
Wirkung insbesondere auf Eigentumsdelikte und bei Vergehen im Zusammenhang mit
Kraftfahrzeugen entfaltet. In bezug auf Gewaltdelikte, die die
Öffentlichkeit am stärksten beunruhigen, ist der Effekt viel geringer
zu veranschlagen und vieles deutet darauf hin, daß Videoüberwachung
lediglich kriminalisierbare Vorfälle in andere Gebiete abdrängt.
Unter
diesem Blickwinkel kann der Boom der Videoüberwachung in
Großbritannien nicht mehr allein als rationale Antwort auf das
Kriminalitätsproblem erklärt werden, sondern muß in seinem
umfassenderen ökonomischen, politischen und ideologischen Kontext gestellt
werden.
Der
gesellschaftliche Kontext
In
ökonomischer Hinsicht ist die Einführung von Videoüberwachung in
Innenstädten eng mit den tiefgreifenden Änderungen verbunden, denen
der Konsumbereich unterworfen ist. Zum einen verstärkte der
ökonomische Niedergang der Innenstädte die Entwicklung von
Einkaufszentren auf der grünen Wiese und brachte während der
späten 80er und frühen 90er Jahre einen 40%igen Rückgang der
Einnahmen in den Einkaufsstraßen der Innenstädte mit sich.
Während die neuen Einkaufsgalerien an den Stadträndern als bequem,
sicher und ästhetisch ansprechend wahrgenommen wurden, erschienen die
Innenstädte als heruntergekommene, schmutzige und unattraktive Orte. Wenn
der Verfall weiter fortschreiten sollte, so sorgte sich eine Reihe von
landesweit in den Stadtzentren vertretenen Handelsketten, würde der Wert
des Grundbesitzes fallen. Geschäftsleute sahen daher in der
Videoüberwachung einen Weg, das Image der Innenstädte dem der
Galerien anzugleichen und wurden zu aktiven politischen und finanziellen
Förderern der Videoüberwachung. Die Nutzung des öffentlichen
Raums der Innenstädte wurde zunehmend von Geschäftsinteressen
dominiert, die bestimmte Personen und Aktivitäten als wenig
förderlich für ihre am Normalkunden orientierten
Vorstellungen des Wünschenswerten ansahen. Ein Viertel der
Innenstadtmanager, so eine Umfrage, mißbilligte politische Versammlungen,
die Hälfte waren gegen herumlungernde Jugendliche und
ebenfalls die Hälfte wollte das Betteln auf den Straßen verbieten.
[23] Auf
der politischen Ebene mußte die konservative Regierung zu ihrer
Bestürzung feststellen, daß sie dem andauernden Anstieg der
registrierten Kriminalität offensichtlich nichts Wirksames
entgegenzusetzen hatte. Dabei war sie gerade wegen ihrer law and
order-Slogans gewählt worden. Sie hatte die Bezahlung der Polizei
erhöht, mehr Beamte eingestellt und die diesbezüglichen Ausgaben
zwischen 1982 und 1991 um 43% gesteigert.
[24]
Trotzdem verdoppelte sich zwischen 1979 und 1992 die Zahl der registrierten
Straftaten von knapp unter drei Millionen pro Jahr auf über sechs
Millionen.
Mit
diesem Ergebnis kam die Regierung immer stärker unter Druck der damaligen
Opposition von Blairs New Labour, die sich mit dem Slogan
tough on crime, tough on the causes of crime als die wahre
law and order-Partei darzustellen versuchte. Im Namen des
Wahlerfolges wischte New Labour alle bürgerrechtlichen Bedenken gegen die
neue Überwachungstechnik vom Tisch. Der konservativen Regierung
andererseits, die händeringend ihrem law and order-Image
hinterherlief, mußten Zahlen, die eine massive und unmittelbare Reduktion
von Kriminalitätsraten versprachen, wie ein Geschenk des Himmels
erscheinen wie auch immer diese Zahlen zustande gekommen waren. Mit der
Förderung von Videoüberwachungsanlagen bewies man
Handlungsbereitschaft: Am Tage konnte sich jeder von der raschen Verbreitung
der Kameras ein eigenes Bild machen, und am Abend wurde den Fernsehzuschauern
das gefilmte Material in Form von Kriminaldokumentationen wie Police
Camera Action!, Eye Spy oder Britain Most
Wanted als infotainment serviert.
Aus
der Faszination der Medien an Filmmaterial aus den Überwachungskameras
erwuchs eine erhebliche ideologische Unterstützung für die
Einführung der Systeme. Ständig konnte man Erfolgsgeschichten senden
oder zur Fahndung nach aufgenommenen flüchtigen Tätern aufrufen.
Allerdings repräsentieren derartige Fernsehsendungen nur einen winzigen
Ausschnitt dessen, was in 17 Mio. Stunden wöchentlich von den Kameras
aufgezeichnet wird. Polizei oder lokale Behörden sind sich der
öffentlichen Wirkung des ausgestrahlten Materials sehr bewußt und
wählen die Ausschnitte sorgfältig aus. Gezeigt werden nur
Vorfälle, die mit den gängigen Vorstellungen von richtiger
Polizeiarbeit übereinstimmen und diese in einem moralisch
unzweifelhaften Licht präsentieren. Die Überwachung von
Demonstranten, die Vertreibung lästiger Jugendlicher durch
die Polizei oder die Fernhaltung von Kindern aus Einkaufszentren durch
Wachleute gehen nicht über die Fernsehbildschirme. Dennoch gehören
sie zur täglichen Praxis der Videoüberwachung.
Die
Realität der Videoüberwachung
Es
gibt eine wachsende Anzahl von Studien, die sich mit der Effizienz von
Videoüberwachung als Mittel der Kriminalprävention befassen, jedoch
sind diese meist nur am Resultat und nicht am Prozeß selbst interessiert.
Wer bzw. was von den Beobachtern an den Schirmen beobachtet wird und was in den
Augen der Operateure als verdächtiges Verhalten erscheint, wurde bisher
kaum untersucht. Dieser Frage sind wir mit einer Studie nachgegangen, in der
wir über 600 Stunden die Beobachter in drei Videokontrollzentren selbst
beobachtet haben. Wir skizzieren im folgenden die Ergebnisse unserer
Untersuchung zur sozialen Konstruktion des Verdachts.
[25] Große
Stadtzentren und geschäftige Einkaufsstraßen konfrontieren die
Überwachungsoperateure mit einem erheblichen Problem: wie filtert man
angesichts der Masse von unbekannten Menschen, die auf den Bildschirmen
erscheinen, diejenigen heraus, die man intensiver beobachten will? Die Antwort
ist unspektakulär: die Operateure werfen ein Auge auf die sozialen
Gruppen, die am ehesten für abweichend gehalten werden. Die Konsequenz
daraus ist wenig erfreulich: Männer, vor allem wenn sie jung sind und
schwarze Hautfarbe haben, sind bei dieser Beobachtung
überrepräsentiert. 90% der gezielt Observierten sind männlich,
40% sind Jugendliche. Schwarze werden anderthalb bis zweieinhalb mal so
häufig observiert, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen
würde.
30%
der Observierten rücken aus kriminalitätsrelevanten Anlässen in
den Blick der Operateure, weitere 20% wegen ihres ungebührlichen
Verhaltens. Bei der größten Gruppe (40%) existiert jedoch
kein offensichtlicher Grund oder Anlaß für die Beobachtung. Dieses
Verhältnis spiegelte sich auch in den Antworten auf unsere Frage nach den
Gründen des Verdachts: Nur ein Viertel wurde wegen ihres konkreten
Verhaltens in den Blick genommen. In einem Drittel der Fälle wurde die
Aufmerksamkeit der Beobachter in den Zentralen von außerhalb auf Ziele
gelenkt. Signifikant aber waren jene Fälle, bei denen Personen nur deshalb
als verdächtig eingestuft wurden, weil sie zu einer
bestimmten Kategorie, zu einer sozialen oder subkulturellen Gruppe gehören.
Jugendliche,
Männer und Schwarze wurden systematisch und überproportional
observiert, nicht wegen ihrer Beteiligung an Straftaten oder
Ordnungswidrigkeiten, sondern ohne bestimmten Grund, allein auf
der Basis kategorialer Zuordnung. Wenn ältere Menschen oder Frauen Ziel
der Beobachtung waren, geschah dies sehr viel wahrscheinlicher aufgrund von
Delikten oder wegen ihres ersichtlichen Verhaltens. Von den fast 900 gezielten
Überwachungen, die wir dokumentieren konnten, führten nur 45 zu
Einsätzen (vornehmlich wegen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten), und nur
zwölf hatten eine Festnahme zur Folge. Davon bezog sich die Hälfte
auf kleinere Ordnungswidrigkeiten.
Der
polizeiliche Blick der Kameras erfaßt eben nicht alle
Straßenbenutzer in gleicher Weise, sondern in erster Linie die, die
stereotyp als potentiell abweichend angesehen oder wegen ihres Aufzugs bzw.
Auftretens von den Kontrolleuren als nicht respektabel
aussortiert werden. Auf diesem Wege werden männliche, schwarze Jugendliche
also in erster Linie die ohnehin schon sozial und ökonomisch
marginalisierten in verstärkter Form zum Gegenstand von
Überwachungen, unnachsichtigen Interventionen und offiziellen
Stigmatisierungen. In der Summe führt Videoüberwachung kaum zu mehr
Gerechtigkeit. Sie verhindert nur selten, daß jemand Opfer einer Straftat
wird. Sie ist vielmehr ein Instrument der Ungerechtigkeit, weil sie
diskriminierende polizeiliche Eingriffe verstärkt.
Die
Zukunft der Videoüberwachung
Trotz
des Booms der Überwachungskameras in den vergangenen Jahren muß der
heutige Stand der Technik als frühes Entwicklungsstadium angesehen werden.
Erst allmählich beginnen die Herstellerfirmen, das Potential dieser
Technologie zu erkennen und praktische Wege der Umsetzung herauszufinden. Viele
der von uns interviewten Experten der Branche folgten ausgesprochen
panoptischen Visionen. Die meisten waren auf einen zusätzlichen Ausbau
bestehender Systeme oder die Einbeziehung weiterer Bereiche der Städte
geradezu versessen. Einige wiederum spekulierten auf die Möglichkeiten
automatisierter Überwachung und Identifikation. Gegenwärtig
stößt eine systematische Identifikation, Aufzeichnung und
Klassifikation von Menschen an öffentlichen Orten noch auf technische
Schwierigkeiten. Zwar versorgen schon verschiedene Software-Firmen wie
Memex und Dectel die Polizeibehörden mit
ausgefeilter Bildhandhabungs-Software. Eine verläßliche Technik, die
eine automatische Identifizierung von Personen anhand ihrer Gesichtsmerkmale
und den unmittelbaren Abgleich mit den Daten einer Bilddatenbank
ermöglichen würde, steht jedoch noch nicht zur Verfügung. Im
Londoner Bezirk Newham soll in Kürze ein Feldversuch hierzu gestartet
werden.
Methoden
des halbautomatischen Abgleichs mit einzelnen Bilddatenbanken werden bereits
jetzt immer häufiger genutzt. Dem Vorbild der Hooligan-Datenbank
entsprechend, die während der Fußballeuropameisterschaften 1996 zum
Einsatz kam,
[26]
wurden inzwischen solche für Demonstranten, Bankräuber und
mutmaßliche illegale Immigranten aufgebaut. Demnächst ist mit
Dateien für Tierschutzaktivisten, Umweltschützer, Ladendiebe etc. zu
rechnen. Die Möglichkeit einer beinahe landesweiten Bilddatenbank aller
Bürger rückt mit der vorgeschlagenen Einführung eines neuen
Führerscheins näher. Die darauf enthaltenen Fotos werden
voraussichtlich in digitalisierter Form beim Kraftfahrzeugamt gespeichert, wo
sie der Polizei permanent zur Verfügung stehen.
[27] Eine
automatische Identifizierung der im nationalen Polizeicomputer (PNC)
gespeicherten Autokennzeichen ist bereits Praxis. Die Kameras im Innenstadtring
von London sind an den PNC gekoppelt. Dieses System, das auf der Integration
von digitalen Bildern, Computern und fortgeschrittenen Bilderkennungsverfahren
basiert, ermöglicht die Aufzeichnung und die Erkennung jedes Fahrzeugs,
das in die Square Mile der Londoner City fährt. Das
Kennzeichen wird fotografiert, automatisch dekodiert und gegen eine Datei
verdächtiger oder gesuchter Fahrzeuge abgeglichen.
[28] Diese
Kombination von digitaler Fotografie, Bilderkennung. Rasterfahndung und neuen
Datenbanktechnologien birgt in sich die Aussicht auf eine Gesellschaft
überwachter Massen, in der all unsere Bewegungen und Interaktionen im
öffentlichen Raum beobachtet, aufgezeichnet und dokumentiert werden. Es
ist durchaus nicht abwegig zu behaupten, daß mit der Jahrtausendwende die
Erwartung von Anonymität im öffentlichen und zivilen Leben
Großbritanniens gegenstandslos wird. Jede Reise, jedes Treffen und jede
Begegnung könnten so im Prinzip offiziell registriert werden, und
gegenwärtig gibt es, wenn überhaupt, nur unzuverlässige
Garantien, daß diese Informationen nur zu wohlmeinenden Zwecken benutzt
würden.
Clive Norris lehrt Kriminologie an der School of Comparative and Applied Social
Sciences der Universität von Hull in England. Gary Armstrong unterrichtet
Kriminologie und Soziologie an der Universität Reading. Zusammen mit Jade
Moran haben sie 1998 den Sammelband Surveillance, Closed Circuit
Television and Social Control herausgegeben.
[1] Offizieller
Aufkleber in Londoner Vorortzügen
[2] Mainwaring-White,
S.: The Policing Revolution, Brighton 1983, p. 91
[3] Goodwin,
M.; Johnstone, C.: Williams; K.: New spaces of law enforcement (Closed Circuit
television, public behaviour and the policing of public space), Unpublished
paper, Institute of Geography and Earth Sciences, University of Wales,
Aberystwyth 1998, p. 3
[4] Norris,
C.; Armstrong. G.: CCTV and the Rise of the Mass Surveillance, in: Carlen, P.;
Morgan, R. (eds.): Crime Unlimited, London 1998
[5] Goodwin
et al. a.a.O. (Fn. 3), p. 3
[6] McCahill,
M.; Norris, C.: Watching the workers: Crime, CCTV and the Workplace, in: Davis,
P.; Jupp, V.; Francis, P. (eds.): Invisible Crimes, London erscheint 1999
[7] Maguire,
M.: Restraining Big Brother: The regulation of surveillance in England and
Wales, in: Norris, C.; Moran, J.; Armstrong, G. (eds.): Surveillance, closed
circuit television and social control, Aldershot 1998
[8] Sharpe,
S.: Electronically Recorded Evidence: A Guide to the Use of Tape and Video
Recordings, in: Criminal Proceedings, London 1989, Chapter 5
[9] The
Guardian v. 26.11.1997
[10] Maguire
a.a.O. (Fn. 7)
[11] The
Independent v. 27.2.1994
[12] Short,
E.; Ditton, J.: Does CCTV Affect Crime?, in: CCTV Today 1995, No. 2, pp.
10-12 (2)
[13] ebd.
[14] Pawson,
R.; Tilley, N.: What works in Evaluation Research, in: British Journal of
Criminology 1994, No. 3, pp. 291-306
[15] The
Guardian v. 16.4.1993; The Independent v. 6.6.1994
[16] The
Guardian v. 19.10.1994
[17] Short,
E.; Ditton, J.: Does Closed Circuit Television Prevent Crime? An Evaluation of
the Use of CCTV Surveillance Cameras in Airdrie Town Centre, The Scottish
Office, Central Research Unit, Edinburgh 1996
[18] Brown,
B.: Closed Circuit Television in Town Centres: Three Case Studies, Crime
Prevention and Detection Series Paper 73, Home Office, London 1995, p. 26
[19] Squires,
P.; Measor, L.: Closed Circuit TV Surveillance and Crime Prevention in
Brighton: Half Yearly Report, Brighton 1996
[20] Skinns,
D.: Crime Reduction, diffusion and displacement: evaluating the Effectiveness
of CCTV; in: Norris; Moran; Armstrong (eds.) a.a.O. (Fn. 7)
[21] Brown,
B. a.a.O. (Fn. 18), pp. 34-43
[22] Sarno,
C.: The Impact of Closed Circuit Television on Crime in Sutton Town Centre, in:
Bulos, M.; Grant, D. (eds.): Towards a Safer Sutton? CCTV One Year On,
London 1996
[23] Reeve,
A.: The panopticisation of shopping: CCTV and Leisure consumption; in: Norris;
Moran; Armstrong (eds.), a.a.O. (Fn. 7)
[24] Audit
Commission: Helping with Enquiries: Tackling Crime Effectively, London 1993
(HMSO)
[25] Die
Studie erscheint 1999 unter dem Titel: The maximum surveillance society.
[26] The
Guardian v. 10.2.1996
[27] Davies,
S.: Big Brother: Britain's Web of Surveillance and the New Technological Order,
London 1996, p. 196
[28] Norris,
C.; Moran, J; Armstrong, G.: Algorithmic Surveillance: The Future of Automated
Visual Surveillance; in: Norris; Moran; Armstrong a.a.O. (Fn. 7)
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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1998 HTML-Auszeichnung: Felix Bübl. Zuletzt verändert am 31. Dezember 1998. |