zurück zur CILIP-Startseite
Bürgerrechte & Polizei/CILIP 62 (1/1999)

abstand

EU-Aktionsplan gegen OK

Eine polizeiliche Wunschliste wird erfüllt


von Mark Holzberger


Im Dezember 1996 setzte der Europäische Rat (ER), die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, eine Hochrangige Gruppe ein, die in nur vier Monaten einen EU-Aktionsplan „zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ zusammenschusterte.[1] Der Plan enthält 15 Leitlinien, 30 Empfehlungen und einen detaillierten Zeitplan. Im Juni 1997 wurde nicht nur der Amsterdamer Vertrag unterzeichnet, sondern en passant auch der Aktionsplan gebilligt, der seitdem Punkt für Punkt umgesetzt wird – vorbei an Parlamenten und der Öffentlichkeit.

Ein erster Sachstandsbericht, der dem ER im Mai 1998 vom britischen Ratsvorsitz vorgelegt wurde,[2] bietet eine günstige Grundlage für eine kritische Analyse. Diese wird sich aus Gründen der Übersichtlichkeit und Prägnanz auf einige der wichtigsten Maßnahmen beschränken.

Kriminelle Vereinigung

Auf seiner Sitzung am 19. März 1998 verabschiedete der Rat der Justiz- und InnenministerInnen der EU eine „Gemeinsame Maßnahme“, welche die Mitgliedstaaten der EU auffordert, den Tatbestand der Beteiligung an einer „kriminellen Vereinigung“ in ihr Strafrecht aufzunehmen.[3] Dies entspricht der Empfehlung Nr. 17 des OK-Aktionsplans. Um diese Gemeinsame Maßnahme wurde monatelang kontrovers verhandelt – nicht zu Unrecht, denn sie hat es in sich.

Das deutsche Strafrecht kennt zwei Organisationsstrafnormen: den bereits aus dem letzten Jahrhundert stammenden § 129 StGB – kriminelle Vereinigung – und den 1976 im Zuge der Terrorismushysterie eingeführten § 129a StGB, der die Bildung, Mitgliedschaft, Unterstützung sowie Werbung für eine „terroristische Vereinigung“ unter Strafe stellt. Letzterer bildet das Zentrum des hiesigen Staatsschutzstrafrechts. Er ist Anknüpfungsnorm für eine lückenlose polizeiliche Überwachung eines verdächtigen politischen Spektrums, für die Aushöhlung strafprozessualer Rechte von Beschuldigten und Angeklagten sowie ggf. für deren Isolations-Haftbedingungen. Der § 129a ist ein regelrechtes „Sesam-Öffne-Dich“ für die deutsche Staatsschutzjustiz.

Neben den strafprozessualen Konsequenzen besteht der Vorteil eines derartigen Vereinigungsdelikts aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden in einer erleichterten Beweisführung – zu Lasten der Beschuldigten. Grundgedanke ist, daß den Angeklagten nicht mehr die Begehung einer konkreten Straftat nachgewiesen werden muß. Mit Hilfe einer derartigen Auffangnorm kann eine Person, die als Mitglied einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung angesehen wird, für sämtliche dieser Organisation zugeschriebenen Straftaten zur Verantwortung gezogen werden.

Diese rechtsstaatlich bedenkliche Logik, die einigen europäischen Rechtssystemen bislang völlig fremd gewesen ist, wurde nunmehr zu einer verbindlichen Vorgabe für sämtliche EU-Staaten. Art. 1 der Gemeinsamen Maßnahme definiert eine „kriminelle Vereinigung“ als „organisierte(n) Zusammenschluß von mehr als zwei Personen, die auf Dauer in Verabredung handeln, Verbrechen oder Vergehen zu begehen, die mit einer Freiheitsstrafe von im Höchstmaß vier Jahren oder einer schwereren Strafe bedroht sind.“ Allgemeines Ziel einer „kriminellen Vereinigung“ soll es sein, „geldwerte Vorteile“ zu erlangen oder „ggf. die Funktionsweise öffentlicher Behörden in unzulässiger Weise beeinflussen“ zu wollen – wobei sowohl nach der deutschen als auch der englischen Version („improperly influencing the operation of public authorities“) unklar bleibt, ob hier ausschließlich die strafbare Beeinflussung (wie z.B. Nötigung) gemeint ist – oder ob auch unübliche oder verwaltungsrechtlich nicht vorgesehene Formen der Einflußnahme gemeint sind.

Auf einen Straftatenkatalog, der noch in anfänglichen Entwürfen vorgesehen war, haben die Minister bewußt verzichtet. Die Definition ist uferlos: Mit einer Höchststrafe bis zu fünf Jahren sind nach deutschem Strafrecht u.a. Allerweltsdelikte wie Diebstahl oder gefährliche Körperverletzung bedroht. Über vier Jahren liegen auch die Höchststrafen bei den meisten Delikten des politischen Strafrechts und beim schweren Landfriedensbruch. Daß man bei der Gemeinsamen Maßnahme auch politischen Protest im Auge hatte, zeigt sich u.a. an der zum Schluß der Verhandlungen aufgenommenen Vorbemerkung. Danach soll beim Vorgehen gegen „kriminelle Vereinigungen“ speziell „die freie Meinungsäußerung sowie die Versammlungs- und Vereinsfreiheit“ beachtet werden – eine Regelung, die im Kontext gewöhnlicher Kriminalität keinen Sinn ergäbe.
Eine Person, die der Beteiligung an einer „kriminellen Vereinigung“ verdächtigt wird, muß nach Art. 2 Abs. 1 der Gemeinsamen Maßnahme entweder Kenntnis des „Ziels und der allgemeinen kriminellen Tätigkeit der Vereinigung“ haben oder den „Vorsatz der Vereinigung“ kennen, „strafbare Handlungen zu begehen“. Zwar wird eine „aktive Teilnahme“ vorausgesetzt, diese muß aber nicht in einer konkreten Beteiligung an der Ausführung einer Straftat bestehen. Eine Straftat muß noch nicht einmal ausgeführt oder konkret vorbereitet worden sein.

Für „sonstige Aktivitäten der Vereinigung“ belangt werden können Betroffene auch, sofern sie sich „bewußt“ gewesen sind, daß ihre – nicht näher spezifizierte – „Beteiligung“ zur Durchführung der kriminellen Aktivitäten der Vereinigung „beiträgt.“ Art. 2 Abs. 3 inkorporiert ferner das dem kontinental-europäischen Recht fremde angelsächsische „conspiracy law“. Danach ist eine Beteiligung bereits gegeben, wenn die betreffenden Personen eine „Vereinbarung über die Ausübung einer Tätigkeit getroffen haben, deren Durchführung der in Art. 1 genannten Verbrechen und Vergehen gleich käme, auch wenn sich diese Person nicht an der eigentlichen Ausführung der Tätigkeit beteiligt“. Beweise für ein auf längere Dauer angelegtes organisiertes Zusammenwirken von mindestens drei Personen sind nicht nötig.

Die Innen- und Justizminister waren sich sehr wohl bewußt, daß sie sich nun endgültig im eigentlich straflosen Vorfeld krimineller Handlungen befanden. Und so haben sie sich in Art. 2 Abs. 4 der Gemeinsamen Maßnahme gegenseitig zu einer „möglichst weitgehenden Amtshilfe“ auch in den Fällen verpflichtet, in denen ein Mitgliedstaat derartige Vorfeldhandlungen nicht unter Strafe gestellt hat. Auch die von den Niederlanden, Belgien und der BRD bis November 1997 vorgetragenen Bedenken, ob sie in Conspiracy-Fällen überhaupt eine justizielle Zusammenarbeit zulassen könnten, gingen sang- und klanglos unter.

Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit von Handlungen ist bis heute Voraussetzung bei der grenzüberschreitenden Kooperation von Strafverfolgungsbehörden und führte sowohl bei fiskalischen Delikten als auch bei Fällen „terroristischer Vereinigung“ immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den westeuropäischen Staaten. Diesen Stolperstein zu schleifen, ist das eigentliche Ziel der Maßnahme. Auch wenn es zu keinen Verurteilungen wegen Bildung oder Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung kommt, sollen die Rechts- und Amtshilfe zwischen den Polizei- und Justizbehörden und damit die weitergehenden Ermittlungen sichergestellt werden.

So wird in einer Erklärung des Rates ein Bewertungsgremium (s.u.) nicht nur damit beauftragt, die Umsetzung der Gemeinsamen Maßnahme in nationales Recht zu überprüfen. Auch die letztlich politisch beeinflußbare „Praxis der strafrechtlichen Verfolgung der hierunter fallenden Straftaten“ soll bewertet werden. Schließlich soll dieser Gutachterausschuß „alle erforderlichen Maßnahmen“ untersuchen, mit denen die entsprechende justizielle Kooperation „wirksamer gestaltet“ werden kann. Hierbei soll ausdrücklich danach gefragt werden, „ob die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten behindert.“

Das Rechtshilfeübereinkommen

Daß die Rechtshilfe ein zu langsames und kompliziertes Instrument sei, wird seit geraumer Zeit vor allem von Polizeibehörden beklagt. Mit dem EU-Rechtshilfeübereinkommen, dessen rascher Abschluß in der vierten Leitlinie des Aktionsplans gefordert wird, droht die Rechtshilfe in Strafsachen mehr und mehr zu einer polizeilich dominierten Amtshilfe zu werden. Über den Rechtshilfevertrag wird schon seit längerem verhandelt. Seit Mai 1998 liegt ein Entwurf vor, der nur noch kleine Lücken aufweist.[4] Zwar gibt es noch einzelne Prüfvorbehalte diverser Mitgliedstaaten, die wesentlichen politischen Entscheidungen sind aber gefallen.

Relativ unproblematisch erscheint dabei, daß der direkte Verkehr zwischen den beteiligten Justizbehörden den Weg über die Justizministerien als normalen Geschäftsweg ersetzen soll (Art. 5). Ein entsprechender Trend war bereits in früheren bi- und multilateralen Verträgen absehbar. Die dadurch bewirkte Beschleunigung der Rechtshilfe schränkt die justizielle Kontrolle nicht ein.

An anderen Punkten sieht der Vertragsentwurf dagegen weitreichende Einschnitte in die traditionellen Konzepte der Rechtshilfe vor. Bisher waren für die Gewährung der Rechtshilfe das Recht und die Verfahren des ersuchten Staates ausschlaggebend. Formal soll dies auch weiter so bleiben. Allerdings soll der Staat, von dem das Ersuchen ausgeht, nun nicht nur Fristen für die Bearbeitung setzen, sondern auch Formen und Verfahren festlegen können, zu deren Einhaltung sich der ersuchte EU-Staat verpflichten soll, sofern dadurch nicht „Grundprinzipien“ seiner Rechtsordnung verletzt würden. Worin diese Grundprinzipien bestehen können, wird in dem Abkommensentwurf nicht erklärt.

Eine weitere grundsätzliche Veränderung erfolgt durch die Zulassung von Spontanübermittlungen durch die „zuständigen Behörden“. Dieses sind in erster Linie Polizeibehörden, die in Zukunft auch ohne vorhergehendes Ersuchen Informationen übermitteln sollen. Eine ähnliche Regelung war bereits in Art. 46 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) enthalten. Für die Übermittlung werden keine Grenzen gesetzt – weder was die Schwere der Straftat betrifft, noch was den Charakter der Information angeht. Da es sich bei der Übermittlung formal um einen Akt der Rechtshilfe handelt, sind diese Informationen prinzipiell gerichtsverwertbar.

Ganz zum Polizeiabkommen mutiert das Vertragswerk in den Regelungen über die „spezifischen Formen der Rechtshilfe“. Dabei geht es insbesondere um verdeckte – sprich: geheime – Ermittlungsmethoden. In die Verrechtlichung derartiger Methoden im grenzüberschreitenden Rahmen war man bereits mit dem SDÜ eingestiegen, das u.a. Regelungen über grenzüberschreitende Observationen und Kontrollierte Lieferungen von Drogen enthielt (Art. 40 und 72 SDÜ). Das EU-Abkommen über die Zollamtshilfe, das sog. Neapel II-Abkommen von 1997 eröffnete auch den Zollbehörden „besondere Formen der Zusammenarbeit“. Darunter fällt neben Observationen und Kontrollierten Lieferungen auch der Einsatz von Verdeckten Ermittlern (VE).

Das Rechtshilfeübereinkommen geht diesen Weg weiter: Nach Art. 10 des Entwurfs sollen „der ersuchende und der ersuchte Staat“ sich im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen durch „verdeckte oder unter falscher Identität handelnde Beamte“ unterstützen können. Nach dieser Bestimmung wäre ein Einsatz von V-Personen, also nicht-beamteten Spitzeln, ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen wäre zumindest nach diesem Abkommen ein Einsatz im rein polizeirechtlichen Vorfeld. Es muß sich um strafrechtliche Ermittlungen handeln. Da die Grenze zwischen Polizeirecht und der dort verankerten Aufgabe der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ und Strafrecht hauchdünn ist, kann die Bestimmung kaum beruhigen. Dies um so weniger, als grenzüberschreitende VE-Einsätze im Vorfeld nicht ausdrücklich verboten werden. Sofern (noch) kein Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt ist, steht es bisher im Belieben der Polizei, ob sie die Staatsanwaltschaft mit einbezieht. Hinzu kommt, daß das Abkommen keinen Katalog von Delikten vorsieht, auf den sich grenzüberschreitende VE-Einsätze zu beschränken hätten.

Nicht festgelegt wird ferner, in welchem Staat die Ermittlungen anhängig zu sein haben. In der Praxis haben sich hier durch die Arbeiten der seit 1983 bestehenden International Working Group on Undercover Policing verschiedene Konstellationen herausgebildet. Die klassische Variante besteht darin, daß z.B. die Spitzeltätigkeit eines deutschen VE für ein deutsches Verfahren ins Ausland verlängert wird, nachdem ein entsprechendes Rechtshilfeersuchen bewilligt wurde. Denkbar ist auch die bloße „Organleihe“: daß z.B. die niederländische Polizei für ein von ihr geführtes Verfahren einen VE aus Deutschland ausleiht, der das von ihr erwünschte Anforderungsprofil aufweist. Beide Varianten wären durch die Formulierung des Abkommensentwurfs gedeckt. Der erläuternde Bericht soll „Beispiele für die Situationen“ benennen, in denen der grenzüberschreitende VE-Einsatz in Frage käme.

Das Abkommen läßt auch den Einsatzrahmen für die ausländischen VEs offen. Noch in früheren Versionen sollte deren Einsatz auf die Informationssammlung und die Herstellung von Kontakten „zu Tatverdächtigen und deren Umfeld“ beschränkt sein. Diese Einschränkung wurde fallengelassen. Der Entwurf hält nur noch fest, daß in jedem Einzelfall die „zuständigen Behörden des ersuchten Staates“ entscheiden sollen. Dies ist letztlich eine Banalität, die allenfalls garantiert, daß die beamteten Spitzel nicht unangemeldet im Ausland operieren. In dieser Einzelfallentscheidung sollen sowohl die Dauer, die „genauen Voraussetzungen“ sowie Rechtsstellung des VE und Haftungsfragen geregelt werden. Der Entwurf verschwendet kein Wort auf die Frage, ob und gegebenenfalls wie ausländische VE vor den entsprechenden Gerichten auszusagen hätten. Es kommt damit den Interessen der Polizei entgegen, die einen VE-Auslandseinsatz und insbesondere die Praxis der Organleihe in der Regel davon abhängig macht, daß der Spitzel nicht vor Gericht erscheinen muß. Mit dem Hinweis auf Haftungsfragen „für gegebenenfalls bei verdeckten Ermittlungen begangene Verstöße oder verursachte Schäden“ erkennt der Abkommensentwurf an, daß es bei solchen Einsätzen zu „milieutypischen Straftaten“ kommen kann und daß diese zum regelmäßigen Geschäft der Spitzelei gehören.

Kontrollierte Lieferungen (Art. 10) sind Schmuggelaktivitäten, die von der Polizei entweder von außen technisch überwacht und observiert und/ oder von innen durch V-Personen oder VEs initiiert, gesteuert bzw. begleitet werden. Im SDÜ waren derartige Operationen nur im Hinblick auf Drogen verrechtlicht worden, das Neapel II-Abkommen bezog weitere Verbotswaren (u.a. radioaktive Stoffe) ein. Der Entwurf des Rechtshilfeübereinkommens sieht als Voraussetzung nur noch vor, daß die Kontrollierte Lieferung im Zusammenhang mit einer auslieferungsfähigen Straftat stehen muß. In Deutschland ist das ein Delikt, auf das als Höchststrafe mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe steht. Die Begrenzung ist also in Wirklichkeit keine, denn alle für derartige Operationen in Frage kommenden Schmuggeldelikte werden höher bestraft.

Auch bei Kontrollierten Lieferungen soll es jedesmal eine Einzelfallentscheidung durch den um Zusammenarbeit ersuchten Staat geben. Nach dessen Recht hat sich der Ablauf der Aktion zu richten. Da die nationalen rechtlichen Bestimmungen über Kontrollierte Lieferungen äußerst allgemein sind, heißt dies nichts anderes, als daß die Polizeien allenfalls noch die von polizeilichen Informationen abhängigen Staatsanwaltschaften in ihre Planungen einbeziehen müssen. Zu den eigentlichen Problemen haben sich die VerhandlerInnen des Rechtshilfeübereinkommens genauso wenig Gedanken gemacht, wie die nationalen GesetzgeberInnen. Spätestens seit dem großen niederländischen Polizeiskandal, der 1995/96 von einer parlamentarischen Untersuchungskommission aufgearbeitet worden war, und seit den Plutonium-Schmuggeleien von BND und bayerischem Landeskriminalamt 1994 hätte man wissen können, daß aus Kontrollierten Lieferungen leicht polizeilich bestellte Lieferungen oder gar Scheinverkäufe werden können. Auch das Problem des „forum shopping“, daß nämlich polizeilich dirigierte (Drogen-)Lieferungen dorthin geleitet werden, wo die Justiz die höchsten Strafen verhängt und der Polizei die geringsten Schwierigkeiten macht, ist bekannt.

Vor dem Hintergrund verdeckter Methoden ist auch das neue Instrument der Vernehmung per Videokonferenz (Art. 9) zu sehen. Grundlage für eine Videovernehmung einer im europäischen Ausland befindlichen Person ist die Glaubhaftmachung des ersuchenden Staates, daß „ein persönliches Erscheinen der zu vernehmenden Person in seinem Hoheitsgebiet nicht möglich oder zweckmäßig (!) ist.“ Abs. 5 b) gibt einen ersten Hinweis, für welche Situationen dieses Instrument gedacht ist. „[Es] können Maßnahmen für den Schutz der zu vernehmenden Person vereinbart werden.“ Schon in der Begründung zum deutschen Zeugenschutzgesetz hat die letzte Bundesregierung offen zugegeben, daß es ihr weniger – wie vorgeschoben – um den Schutz kindlicher Opfer als um die Abschirmung von Polizeispitzeln geht.[5] Vor diesem Hintergrund ist auch die – im Vergleich zu den Vorentwürfen[6] – nachträglich eingefügte Möglichkeit zu sehen, selbst Angeklagte im Rahmen einer grenzüberschreitenden Videokonferenz vernehmen lassen zu können (Art. 9 Abs. 9). Dies ist nämlich für die Polizei insbesondere hinsichtlich der Abschottung von künftigen Kronzeugen lukrativ. Zumal das den zuständigen Behörden des ersuchenden Landes zu übermittelnde Vernehmungsprotokoll keine Informationen enthalten darf, die etwaige Schutzmaßnahmen für Verdeckte Ermittler oder Kronzeugen in irgendeiner Weise gefährden könnten (Art. 9 Abs. 6). Eine direkte Beteiligung von Prozeßbeteiligten (Gericht und Verteidigung) im ersuchenden Staat an derartigen Videovernehmungen bzw. eine substanzielle nachträgliche Überprüfung der Umstände dieser Konferenzschaltungen soll durch diese Vorschriften gezielt vereitelt werden. Immerhin wurde auf die in früheren Versionen des Entwurfs vorgesehene Vernehmung per Telefon verzichtet.

Das Rechtshilfeübereinkommen soll auch das grenzüberschreitende Abhören des Telefonverkehrs ermöglichen. Grundsätzlich herrscht in dieser Sache unter den Mitgliedstaaten Einigkeit. Allerdings existieren zwischen den EU-Staaten in einzelnen Aspekten derart gravierende Probleme, daß absehbar ist, daß diese Fragen im Rahmen eines Zusatzprotokolls geregelt werden müssen. Konkret geht es um die Möglichkeit zum Abhören einer z.B. in Brüssel befindlichen Person von Großbritannien aus. Sollte ein EU-Staat ohne Mithilfe des Aufenthaltsstaates zu einer telefonischen Überwachung dieser Person imstande sein, dann möchte z.B. die britische Regierung ihre belgischen KollegInnen über die Durchführung dieser Maßnahme nicht einmal benachrichtigen. Frankreich und Dänemark möchten den Aufenthaltsstaat lediglich informieren, ohne daß dessen Regierung der Abhöraktion zustimmen muß. Der im April 1998 vorgelegte niederländische Kompromißvorschlag sieht nicht nur eine Informationspflicht gegenüber dem Aufenthaltsstaat vor, sondern gestattet es dem betroffenen Land, die Einstellung der Überwachung zu fordern, sofern es der Ansicht ist, daß diese Schnüffelaktion „den Grundsätzen seiner Rechtsordnung“ widerspricht. Bis zum Abbruch der Überwachung gewonnene Informationen sollen nicht als Beweismittel verwertbar sein.

Auch die Fragen des Datenschutzes sowie die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) sind so umstritten, daß sie im Rahmen des Zusatzprotokolls geregelt werden sollen. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten möchte lediglich unverbindlich prüfen, ob überhaupt Bedarf an einer spezifischen Datenschutzregelung besteht. Die Frage der EuGH-Kompetenz sollte nicht überbewertet werden. In Art. 35 des Amsterdamer Vertrages heißt es, daß der Luxemburger Gerichtshof ohnehin nicht zuständig ist, für Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden, die der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder de[m] Schutz der inneren Sicherheit“ dienen.

Begutachtungsmechanismus

Am 5. Dezember 1997 verabschiedete der Rat der EU-Innen- und JustizministerInnen eine Gemeinsame Maßnahme über die Schaffung eines sog. Mechanismus zur Begutachtung der Umsetzung und Anwendung beschlossener OK-Bekämpfungsmaßnahmen in den einzelnen EU-Staaten – ein nur auf den ersten Blick harmloses Unternehmen.

Denn durch diesen Evaluierungsmechanismus soll nicht nur beobachtet werden, ob entsprechende Rechtsakte der Union umgesetzt werden. Vielmehr werden auch die einzelstaatlichen Strafnormen und die Rechtsanwendung einer Begutachtung unterzogen (Art. 1 Abs. 1). Und hiermit wird eindeutig in den – bei den nationalen Parlamenten liegenden – innenpolitischen Gestaltungsspielraum der EU-Mitgliedstaaten eingegriffen. Schließlich wird dem EU-Rat in Art. 8 der Gemeinsamen Maßnahme nicht nur die Kompetenz eingeräumt, „Empfehlungen“ an eine ggf. allzu zögerliche Regierung auszusprechen und diese aufzufordern, Bericht zu erstatten. In Absatz 5 dieses Artikels heißt es darüber hinaus in kryptischen Worten: „Zum Abschluß einer vollständigen Begutachtung ergreift der Rat sachdienliche Maßnahmen.“ Worin diese bestehen sollen, bleibt offen.

Obwohl die Schengen-Kooperation gemäß Amsterdamer Vertrag in die EU-Strukturen überführt werden soll, setzte der Schengener Exekutivausschuß noch im September 1998 einen ähnlichen Begutachterausschuß ein. Er soll die Schengen-Anwärterstaaten auf ihre Beitrittsreife und die Anwendung des Abkommens unter den bisherigen Mitgliedern hin bewerten – und zwar sowohl in rechtlicher, als auch in politisch-praktischer Hinsicht.[7]

Die Spinne im Netz

Auf dem Amsterdamer Gipfel hatte der ER auch gleich die Empfehlung 22 des Aktionsplanes umgesetzt, mit der die Gruppe Hochrangiger Beamter das eigene Weiterbestehen in Form einer „Multidisziplinären Gruppe OK“ (MDG) empfohlen hatte. Unter diesem Dach kommen seit Mitte 1997 monatlich „im operativen Bereich tätige Praktiker der Strafverfolgung, Staatsanwälte und Entscheidungsträger auf hoher Ebene“ aus allen EU-Staaten zusammen. Die MDG überprüft nicht nur die Umsetzung des Aktionsplanes, sondern stellt, wie es im anfangs zitierten Sachstandsbericht heißt, „ein nützliches Forum für die ständige Weiterentwicklung von politischen Strategien und zur Verbesserung der operativen Zusammenarbeit dar. Sie billigte Leitlinien für projektbezogene, behördenübergreifende Strafverfolgungsmaßnahmen und nahm Berichte über einschlägige Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten entgegen.“[8]

Die Gruppe stellt eine zwar informelle, aber sehr wohl institutionalisierte Versammlung von Vertretern aus Polizei, Justiz und Ministerien dar, die sowohl was ihre tatsächliche Arbeit, als auch was ihre personelle Zusammensetzung anbelangt, an den Parlamenten vorbeiarbeitet. Über die deutsche Beteiligung ist nur bekannt, daß je ein Vertreter des bayerischen Innen- und des nordrhein-westfälischen Justizministeriums zur MDG gehören.[9] Anstatt den eigenen Ankündigungen nach mehr Transparenz und Offenheit auch im Bereich der europäischen Innen- und Justizpolitik Folge zu leisten, wird mit der MDG einmal mehr ein neues, von jeglicher demokratischer Kontrolle abgeschottetes Gremium geschaffen. Eine parlamentarische Kontrolle der MDG findet nicht statt. Das EP wird einmal jährlich über die Arbeit des Begutachtermechanismus informiert. Dies geschieht jedoch nur unter dem Vorbehalt der Vertraulichkeit – angesichts dessen, daß hier die Rechtslage und Rechtspraxis eines Landes begutachtet werden soll, eine nicht einzusehende Einschränkung der demokratischen Kontrolle.

Dieser Geheimstatus steht im bezeichnenden Widerspruch zu den Befugnissen und Einflußmöglichkeiten der MDG. Sie ist die Spinne im Netz des Begutachtermechanismus. Sie legt die Gegenstände der Untersuchung sowie die Reihenfolge der zu begutachtenden EU-Staaten fest. Der den Mitgliedstaaten vorzulegende Fragebogen muß von ihr gebilligt werden. Der Entwurf des Gutachtens wird der MDG als vertrauliches Dokument zugeleitet und nur dort erörtert. Sie legt dem Ratsvorsitz schließlich Schlußfolgerungen vor, auf deren Grundlage der Rat über das konkrete Vorgehen gegenüber dem jeweiligen Mitgliedstaat entscheidet.

Die MDG war nach dem o.g. Sachstandsbericht ferner mit der Intensivierung der informellen operativen Zusammenarbeit der EU-Polizeien befaßt. Sie entwickelte Instrumente und Mechanismen für die Unterstützung gemeinsamer Einsätze, legte Prioritäten für solche Einsätze und zur Behebung von Schwierigkeiten fest. Sie prüfte und billigte praktische Leitlinien für eine Verbesserung der operativen polizeilichen Zusammenarbeit, die der Rat im Dezember 1997 verabschiedete. Zudem sorgte sie für die Einrichtung sog. „multidisziplinärer Teams“, die Informationen zusammentragen, analysieren und strategisch auswerten sollen, um sie wiederum den in der Praxis tätigen BeamtInnen zur Verfügung zu stellen.[10] Die MDG steht schließlich auch im Zusammenhang einer im Juni 1998 ins Leben gerufenen informellen Gruppe aus „operativen Sachverständigen und den Leitern der nationalen EUROPOL-Stellen“, welche die „operativen Prioritäten“ für die OK-Bekämpfung und „entsprechende langfristige Strafverfolgungsstrategien“ festlegen soll.[11] Bei der MDG könnte es sich um die Vorläufer-Institution des in Art. 36 des Amsterdamer Vertrages genannten „Koordinierungsausschusses Hoher Beamter“ handeln. Diesem – allein zur Zusammenarbeit mit der EU-Kommission, nicht aber mit dem EP verpflichteten – Gremium obliegt es zukünftig, Stellungnahmen zur Effektivierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit an den Rat der Innen- und JustizministerInnen zu richten bzw. zur Vorbereitung entsprechender Maßnahmen beizutragen.

Kaum Hoffnung aus Amsterdam

Im September letzten Jahres verfaßten sieben Wissenschaftler des Arbeitskreises Innere Sicherheit (AKIS) ein Memorandum zur EU-Innen- und Justizpolitik.[12] Sie weisen darauf hin, daß sich auf europäischer Ebene eine Entwicklung wiederhole, die auch die Nationalstaaten durchgemacht haben. „Innere Sicherheit wird ausschließlich als Ziel und Zweck staatlich vermittelter Sicherheit verstanden. Die bisherige Entwicklung der Europäischen Inneren Sicherheit blendet den bürgerrechtlichen Aspekt nahezu vollständig aus.“ Daran ändere auch der Amsterdamer Vertrag – trotz einiger Fortschritte im Hinblick auf die Vergemeinschaftung – nichts Grundlegendes. Die Wissenschaftler befürchten nicht zu Unrecht, daß auch in der künftigen Justiz- und Innenpolitik der EU „gemeinsame und transparente Strukturen verhindert“ und „exekutiv bestimmte Sonderstrukturen sich unkonkontrolliert“ ausbreiten würden.

Das dem OK-Aktionsplan zugrundeliegende „staatsfixierte Verständnis ,innerer` Sicherheit“ dient bestenfalls der Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten. An eine Beseitigung der Ursachen von Kriminalität – etwa durch die Entkriminalisierung von Drogen oder die Schaffung legaler Zuwanderungsmöglichkeiten für Menschen aus Nicht-EU-Staaten – wird an keiner Stelle des Plans ein Gedanke verschwendet. Mit der im EU-Vertrag versprochenen Demokratisierung der Gesellschaft und der Stärkung ihrer freiheitlichen Strukturen hat der OK-Aktionsplan leider gar nichts zu tun.


Der OK-Aktionsplan und Europol

Der OK-Aktionsplan und Europol Erste Bestandteile des OK-Aktionsplans wurden schon im Amsterdamer Vertrag von Juni 1997 festgeschrieben. Laut Art. 35 Abs. 2 soll der Rat der Innen- und JustizministerInnen Europol innerhalb von fünf Jahren mit Befugnissen im operativen Bereich ausstatten. Die Eurocops sollen „in unterstützender Funktion“ an Operationen der EU-Polizeien mitwirken, solche Aktionen vorbereiten und koordinieren sowie die nationalen Polizeien zu Ermittlungen in einem spezifischen Fall auffordern dürfen. Die Koordination z.B. von Kontrollierten Lieferungen nimmt die Europol-Drogeneinheit schon seit ihrer Gründung 1994 wahr. Dennoch ist das Haager Amt in der Europol-Konvention nur als Informationszentrale konzipiert. Der Druck in Richtung einer operativen EU-Polizei war offensichtlich so stark, daß man nicht einmal das Inkrafttreten der Europol-Konvention abgewartet hat. Voraussichtlich werden die neuen Befugnisse nicht durch eine Erweiterung des Europol-Vertrags, sondern in einer Gemeinsamen Maßnahme festgelegt, die von den nationalen Parlamenten nicht ratifiziert werden muß. Das Europäische Parlament wird dabei nur „angehört“. Mehr Rechte stehen ihm nach dem Amsterdamer Vertrag nicht zu. (H.B.)

Mark Holzberger ist Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsabgeordneten Claudia Roth.



[1] Ratsdok.-Nr. 7421/97 v. 21.4.1997
[2] Ratsdok.-Nr. 7303/3/98 v. 15.5.1998
[3] Ratsdok.-Nr. 6823/98 v. 13.3.1998 (Vorentw. unter Dok-Nr. 10407/97 Version 1-6)
[4] Ratsdok.-Nr. 8637/98 v. 19.5.1998
[5] BT-Drs. 13/7165, S. 4
[6] Ratsdok-Nr. 12323/97 v. 14.11.1997; Art. 12
[7] SCH/Com-ex (98) 26, 4. Rev. v. 23.6.1998
[8] Ratsdok-Nr. 7303/4/98 v. 2.6.1998, S. 3
[9] BR-Drs. 978/1/98
[10] vgl. auch Ratsdok-Nr. 6143/98
[11] Ratsdok-Nr. 7303/4/98 v. 2.6.1998, S. 14f.
[12] Frankfurter Rundschau v. 10.9.1998

zurück zur CILIP-Startseite Inhaltsverzeichnis

© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 1999-2001
HTML-Auszeichnung: Felix Bübl, Martina Kant
Erstellt am 18.04.1999 – letzte Änderung am 20.02.2001