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Kurz vor Ablauf der obligatorischen 100-Tage-Schonfrist für neue
Regierungen hat die Deutsche Vereinigung für Datenschutz im Januar
ihre datenschutzrechtlichen Erwartungen an die rot-grüne Bundesregierung
veröffentlicht. Bei der folgend abgedruckten Version handelt es sich
um eine leicht gekürzte Fassung, wobei die Kürzungen wesentlich
bei der Aufzählung des politischen Handlungsbedarfes vorgenommen
wurden.
Die Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
(...) läßt nicht ansatzweise erkennen, daß sich die Bundesrepublik
an der technologisch bedingten Schwelle zur Informationsgesellschaft
befindet, die neue Antworten zur wirksamen Verteidigung der Bürgerrechte
notwendig macht. Sie gibt auch nicht zu erkennen, daß nach 16 Jahren
einer autoritär-konservativen Politik eine Trendwende im Bereich
des Datenschutzes beabsichtigt sei.
Die PolitikerInnen müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich die
Bedrohungslagen für die Freiheitsrechte und die Menschenwürde
an der Schwelle zum 21. Jahrhundert von denen unterscheiden, die
uns in den letzten 150 bis 200 Jahren seit den bürgerlichen Revolutionen
in Europa bekannt wurden. Drohte den Menschen bisher vor allem Gefahr
durch ungezügelte Ausbeutung als ArbeitnehmerInnen und durch exekutive
staatliche Übergriffe, so verschieben sich die Risiken in den informationellen
Bereich; neue Gefahren sind die schamlose Klassifikation und Manipulation
der Menschen als KonsumentInnen und die informationelle staatliche Kontrolle
im Alltag. Persönliche Selbstbestimmung ist weniger durch privaten
und staatlichen Zwang bedroht als durch die lautlose Kontrolle mit Hilfe
informations-technischer Instrumente.
Informationstechnik eröffnet aber auch völlig neue positive
Möglichkeiten; sie ist in der Lage, den Menschen ihr Leben und Arbeiten
einfacher und angenehmer zu machen. Sie kann dazu benutzt werden, im Interesse
von demokratischer Transparenz und Selbstbestimmung Informationen zu vermitteln
und diese breit zu diskutieren. Sie dient nicht zuletzt als Hilfsmittel
zum Schutz des Menschen, seiner Kommunikationsfreiheit und seiner Privatsphäre.
Auch diese Chancen scheinen bisher kein Anliegen der rot-grünen
Koalitionspartner zu sein.
Mit dem Argument der gerechten Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen
und der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten werden die
Menschen derzeit schon in einem Maße erfaßt und kontrolliert,
wie es früher, schon allein mangels technischer Möglichkeiten,
nicht vorstellbar war. Der Erhalt von sozialen Leistungen wird von der
totalen Offenlegung der persönlichen Verhältnisse abhängig
gemacht. Durch Audio- und Videoüberwachung sowie anlaß-unabhängige
polizeiliche Kontrollmöglichkeiten schwinden die Unbefangenheit im
öffentlichen Leben, Meinungsfreiheit und ziviles Engagement. Mit
dem Lauschangriff wird selbst in den intimsten persönlichen Raum
eingegriffen. Mit dem Abbau von Zeugnisverweigerungsrechten und Berufsgeheimnissen
wird die personale Geheimsphäre eingeschränkt. Mit Konsum- und
Kommunikationsprofilen sowie sozialen und ökonomischen Rastern, erstellt
und zusammengefügt in privaten und öffentlichen Datenbanken
- unter Auswertung von bei immer mehr alltäglichen Verrichtungen
anfallenden Datenschatten und von immer raffinierter erhobenen Datenbeständen
- werden die Menschen zu Informationsmustern reduziert, deren Verhalten
nicht durch gesellschaftlich demokratisch ausdiskutierte Ge- und Verbote
festgelegt wird, sondern durch soziale Ein- und Ausgrenzung, durch gezieltes
Verteilen bzw. Vorenthalten von Informationen und von materiellen Ressourcen.
Beschäftigte in multinationalen Konzernen müssen erleben, daß
ihre Leistungs- und Verhaltensdaten weltweit abrufbar sind und rücksichtslos
ausgewertet werden. Die Spitze der informationellen Ausbeutung der Menschen
droht durch die Analyse des menschlichen Genoms und durch die Auswertung
dieser Informationen. Die als Informationsvorsorge oder informationelle
Fürsorge präsentierten Maßnahmen haben gravierende Auswirkungen
auf die betroffenen Menschen. Sie werden zu reinen Objekten staatlicher
und privatwirtschaftlicher Planungen. Die zumeist anonymen Planungen sind
für die Betroffenen weder transparent, geschweige denn beeinflußbar.
Das Grundgesetz basiert auf einem positiven Menschenbild. Die letzten
16 unionsgeführten Regierungsjahre waren dagegen geprägt von
einer Kontrollkultur. Basis der Erfassung war institutionalisiertes
Mißtrauen. Jede Form der Überwachung läßt sich
dadurch scheinbar rational begründen, daß man unterstellt,
Menschen mißbrauchen ihre Freiräume und Rechte. Mit der Unterstellung
von Mißbrauch (z.B. des Asyl- oder des Demonstrationsrechts, von
Versicherungs- oder Sozialleistungsansprüchen) läßt sich
die Durchleuchtung auch noch des letzten Winkels in unserem Leben rechtfertigen.
Die Überwachung verhindert jedoch nicht den Mißbrauch; oft
wird das Gegenteil erreicht. Überzogene Kontrolle ermuntert zum Umgehen
der Überwachung; das institutionalisierte Mißtrauen verringert
die Bereitschaft zur freiwilligen Ehrlichkeit. Sicherlich bedarf es in
einer hochtechnisierten Risikogesellschaft an vielen Stellen der Kontrolle.
Diese muß sich aber immer im Rahmen der Verhältnismäßigkeit
bewegen. Vor einer personenbezogenen Überwachung sind zunächst
Verfahren zu prüfen, bei denen nur eine sach- bzw. technikbezogene
oder nur eine anonyme Kontrolle erfolgt.
Sah man in der Vergangenheit die größte Gefahr für das
Persönlichkeitsrecht der Menschen im Staat als Big Brother
oder als Leviathan, so hat sich die Bedrohung erweitert: Zunehmend sammeln
private Wirtschaftsunternehmen (...) persönliche Daten für
Zwecke der Kontrolle und Manipulation und nutzen diese Mittel zum Zweck
der Machtausübung und aus Profitinteresse. Big Brother hat Geschwister
bekommen, die ihn hinsichtlich der Verweigerung informationeller Selbstbestimmung
oft schon weit übertreffen.
Um dem Trend zunehmender Überwachung mit Hilfe moderner Informationstechnik
entgegenzuwirken, hat das Bundesverfassungsgericht 1983 aus der Menschenwürde
und dem allgemeinen Freiheitsgrundrecht ein Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung abgeleitet. Dieses Grundrecht, kurz Recht auf Datenschutz
genannt, ist Grundbedingung für eine menschen- und bürgerrechtskonforme
demokratische Informationsgesellschaft.
Verfassungsrechtlich versuchte man nun das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung sowie die sonstigen Freiheitsgrundrechte (...) durch
ein Grundrecht auf Sicherheit zu relativieren. Damit wurde auf
der Basis berechtigter Sicherheitsinteressen und dem kollektiven Schüren
von Angst ein rechtliches Konstrukt aufgebaut, mit dem jegliche verfassungsrechtliche
Freiheitsgewährleistung beschnitten werden kann. Damit geriet auch
aus dem Blick, daß öffentliche Sicherheit ein gesellschaftliches
Gut ist, das nicht rechtlich erzwungen und eingeklagt werden kann, sondern
politisch gestaltet werden muß.
Das Defizit der rot-grünen Koalitionsvereinbarung besteht darin,
daß sie die Problematik informationstechnischer Überwachung
nicht zur Kenntnis nimmt. Eine in der Vereinbarung liegende Chance besteht
aber darin, daß sie - ungeachtet der technischen Gegebenheiten -
dennoch Rahmenbedingungen benennt, die eine bürgerrechtskonforme
Informationstechnik-Politik ermöglichen. Dieses Potential gilt
es auszuschöpfen. Die DVD sieht ihre Aufgabe darin, gemeinsam mit
anderen Bürgerrechtsorganisationen durch kritische Politikbegleitung
informationelle Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen einzufordern
und für deren Realisierung zu kämpfen.
Im Datenschutzrecht müssen alte Zöpfe gekappt werden. Statt
der abwehrenden, muß diesem Recht eine gestaltende Funktion
gegeben werden für eine moderne bürgerrechtskonforme Informationsgesellschaft.
Entfielen bisher gesellschaftliche Gefahren, so wurden die Instrumente
zu deren Bekämpfung nicht wieder abgeschafft, sondern beibehalten
für evtl. neue, noch nicht bekannte Anwendungsfelder (...). Zugleich
wurden privaten Überwachungspraktiken keine wirksamen Grenzen gesetzt.
Diese Altlasten müssen aufgearbeitet und bereinigt werden.
Das Rad staatlicher Überwachung ist zurückzudrehen. Es sind
Evaluationsinstrumente zu schaffen, mit denen die Wirkungen und die Wirksamkeit
staatlicher Kontrolle untersucht werden (können). Durch verfahrensrechtliche
Sicherungen ist zu verhindern, daß Kontrollmonopole mißbraucht
werden. Neue Formen des Grundrechtsschutzes sind zu installieren.
Gegenüber privaten wie öffentlichen Stellen sind den Betroffenen
Abwehrrechte zur Verfügung zu stellen. Ihnen muß das rechtliche
und technische Know-how vermittelt werden, sich der Risiken der Informationstechnik
bewußt zu werden und sich selbst zu schützen.
Die dargestellten Grundsätze führen u.a. zu folgendem politischen
Handlungsbedarf:
Bundesdatenschutzgesetz
- 1999 muß ein Bundesdatenschutzgesetz verabschiedet werden,
das (...) den neuen technischen Herausforderungen und Möglichkeiten
gerecht wird. Hierfür besteht eine tragfähige Grundlage in
dem - unter Federführung der DVD erarbeiteten - Entwurf eines BDSG
(...) der Fraktion B90/Grüne (...) (BT-Drs. 13/9082).
- Ein modernes Datenschutzrecht hat die Grundsätze der Datenvermeidung
und Datensparsamkeit (...), des Datenschutzes durch Technik, der Zweckbindung
der Daten und ihres Verwendungszusammenhangs in den Mittelpunkt zu stellen.
- Den Betroffenen sind vertrauenswürdige Verschlüsselungsverfahren
zum Schutz ihrer elektronischen Kommunikation anzubieten. (...)
Informationsfreiheit als Ergänzung zum Datenschutz
- Dem klassischen Datenschutzrecht ist ein Recht auf Informationsfreiheit
an die Seite zu stellen. (...)
Datenschutzorganisation
- Die Datenschutzkontrolle (...) ist institutionell zusammenzufassen
und organisationsrechtlich völlig unabhängig auszugestalten.
- Datenschutzorganisationen wie die DVD genießen zwar öffentliche
Aufmerksamkeit, sind aber nicht formell in Entscheidungsprozesse eingebunden.
Nach dem Vorbild des Umweltrechts ist die Beteiligung von Verbänden
im Bereich des Datenschutzes zu verbessern.
Datenverarbeitung in der Privatwirtschaft
- Das seit 15 Jahren fällige Arbeitnehmerdatenschutzgesetz ist
endlich zu schaffen. Hierbei sind die Arbeitnehmervertretungen einzubeziehen.
Die Rechte der Betroffenen sind zu stärken, insbesondere auch gegenüber
multinationaler Konzerndatenverarbeitung.
- In vielen Bereichen, z.B. beim Adressenhandel (...), sind die bestehenden
Widerspruchs- durch Einwilligungsregelungen zu ersetzen.
Sicherheitsbereich
- Die Befugnisse zum (...) Lauschangriff sind zurückzunehmen.
- Das Telekommunikationsrecht muß derart überarbeitet werden,
daß das Recht auf telekommunikative Selbstbestimmung nicht durch
sicherheitsbehördliche Zugriffsrechte ad absurdum geführt
wird.
- Die deutschen Geheimdienste (...) sind tendenziell aufzulösen.
(...)
- Das BKA ist bzgl. Personal und Befugnissen (...) zu reduzieren.
- Die Befugnis zur anlaßunabhängigen Personenkontrolle des
Bundesgrenzschutzes ist zurückzunehmen.
- Die Datenspeicherung in der Gen-Datei ist zu beschränken auf
klar gesetzlich definierte schwere Straftaten (...).
- Das Ausländerzentralregister ist von seiner sicherheitsbehördlichen
Funktion zu befreien und auf rein ausländerrechtliche Zwecke zu
beschränken.
- Maßnahmen verdeckter polizeilicher Datenverarbeitung sind (...)
auf ihre Wirkungen und Notwendigkeit hin zu evaluieren.
- Die Datenerhebungsbefugnisse nach dem Anti-Terrorismusrecht sind zu
überprüfen und zurückzunehmen.
- Technische Maßnahmen, die eine Totalkontrolle von Menschen erlauben
(z.B. elektr. Hausarrest, AsylCard), sind nicht weiterzuverfolgen.
Bereichsspezifischer Datenschutz, v.a. im Sozial- und Medizinbereich
- Die Datenverarbeitungsregelungen im Sozialrecht sind umfassend zu
überarbeiten. (...)
- Das medizinische Datenschutzrecht entspricht in keiner Weise mehr
den technischen Gegebenheiten der Diagnostik, der medizinischen Kommunikation
und den organisatorischen und ökonomischen Verhältnissen.
Dem kann durch ein bereichsspezifisches übergreifendes Medizindatenschutzrecht
in Form eines Rahmengesetzes abgeholfen werden. Hierbei ist, v.a. für
den Bereich der Gentechnik, ein Recht auf Nichtwissen vorzusehen.
Medizinische Forschungsdaten müssen beschlagnahmefest gemacht werden.
- Planungen für eine Volkszählung als eine Voll-Zwangserhebung
sollten zugunsten einfacherer und weniger belastender statistischer
Methoden aufgegeben werden.
Europa
- Die Schaffung eines Datenschutzrechtes auf europäischer Ebene
und einer unabhängigen Kontrollinstanz sind voranzutreiben.
- Bei der Verhandlung mit Drittstaaten, namentlich den USA, über
angemessene Datenschutzstandards beim Datenexport sind unabhängige
Kontrollen, die Beachtung des Zweckbindungsgrundsatzes und Betroffenenrechte
unabdingbare Voraussetzungen.
- Europol muß so umgestaltet werden, daß nur klar definierte,
eng begrenzte Befugnisse übertragen werden und eine parlamentarische
und rechtliche Kontrolle ermöglicht wird.
Der vollständige Text der Entschließung kann im Internet
unter www.aktiv.org/DVD abgerufen
oder bei der DVD-Geschäftsstelle, Bonner Talweg 33-35, 53113 Bonn,
Fon 0228-222498, E-Mail dvd@aktiv.org,
angefordert werden. Hajo Köppen, DVD Vorstandsmitglied
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