Bürgerrechte & Polizei/CILIP 67 (3/2000) |
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Polizeiliche Todesschüsse 1999Ministerielle Schwierigkeiten beim Zählen |
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von Otto Diederichs |
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Jeweils zum Jahresende müssen alle Länderpolizeien sämtliche Fälle von Schusswaffengebrauch durch PolizeibeamtInnen an ihre Innenministerien melden. Dort werden sie gesammelt und anschließend an die Polizei-Führungsakademie (PFA) in Hiltrup übermittelt. Die PFA ihrerseits führt die Meldungen der 16 Länderinnenministerien zu einer Statistik zusammen, die dann vom Vorsitzenden der Innenministerkonferenz veröffentlicht wird. So war es jedenfalls bisher. Schon in der Vergangenheit zog sich dieses einfache Prozedere derart in die Länge, dass mit der Veröffentlichung durch die Innenministerkonferenz (IMK) frühestens im Herbst des Folgejahres zu rechnen war. Wesentlicher Grund dafür war die schleppenden Weitermeldung der Zahlen an die PFA. Diese zog vor zwei Jahren die Konsequenzen und beschleunigte das Verfahren: Sie fordert die Daten der einzelnen Länder bis zum Ende des ersten Quartals ein. Säumige Ministerien werden gegebenenfalls gemahnt. Bei der PFA selbst geht es dann relativ schnell. Schon nach wenigen Wochen kann sie der IMK ihre Auswertung vorlegen. Genützt hat das wenig, denn an der Veröffentlichungspraxis der IMK hat sich nichts geändert. Schlimmer noch: Es zeichnet sich offenbar eine Tendenz ab, von der Veröffentlichung überhaupt abzurücken. Damit begonnen hat im letzten Jahr Sachsens Innenminister Klaus Hardraht (CDU). Nach CILIP-Recherchen lag die Polizeiliche Schusswaffengebrauchsstatistik für 1998 seinem Ministerium bereits im Frühsommer 1999 vor. Auf telefonische Nachfrage erklärte man dort seinerzeit, die Veröffentlichung sei nicht vor dem Herbst geplant. Tatsächlich ist die Statistik jedoch überhaupt nicht veröffentlicht worden, wie ein Sprecher des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen gegenüber der Berliner "tageszeitung" (taz) jetzt bestätigte.[1] Offenbar ist auch der derzeitige IMK-Vorsitzende, Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD), gewillt, so zu verfahren. Auch er war bereits im Frühjahr 2000 im Besitz der PFA-Auswertung für 1999. Über eine Veröffentlichung, so sein Sprecher Ulrich Rungwerth, sei allerdings noch nicht entschieden, möglicherweise werde man sich auch dem sächsischen Vorbild anschließen. Immerhin war er bereit, der taz die Zahlen der IMK-Statistik zu nennen. IMK-Statistik und CILIP-ZählungSeit 1974 dokumentiert CILIP den polizeilichen Schusswaffengebrauch mit Todesfolgen. Zunächst basierte diese Zählung ausschließlich auf Meldungen der Tagespresse. Da solche Ereignisse dort immer ein breites überregionales Echo fanden, war dieses Vorgehen anfangs völlig ausreichend. Erste augenfällige Differenzen zur offiziellen Schusswaffengebrauchsstatistik der IMK tauchten ab Mitte der 80er Jahre auf. Nachforschungen ergaben schließlich, dass die IMK ihr Zählverfahren 1983 geändert hatte. "Unbeabsichtigte Schussabgaben", bei denen ein Mensch umkommt, werden seither nicht mehr als Schusswaffengebrauch mit Todesfolge geführt. Statt dessen wurden solche Schüsse anfangs in einer gesonderten Rubrik ausgewiesen. Ein direkter Abgleich der Zahlen blieb also trotz dieses semantischen Tricks der IMK möglich. In der ersten Hälfte der 90er Jahre entstand ein neues, zusätzliches Problem: Das Medieninteresse am polizeilichem Schusswaffengebrauch, als dem härtesten Indikator staatlicher Gewaltfähigkeit, ging zurück. Inzwischen finden nur noch wirklich spektakuläre Fälle Eingang in die überregionale Berichterstattung. Eher "gewöhnliche" Fälle werden dagegen als kurze Agenturmeldungen verbreitet oder kommen über die regionale Presseberichterstattung nicht mehr hinaus. Damit entzogen sie sich immer häufiger auch der CILIP-Dokumentation. Mehrfach mussten in der Vergangenheit deshalb in der CILIP-Tabelle über polizeiliche Todesschüsse verspätet noch Fälle nachgemeldet werden. Seit 1997 veröffentlicht CILIP seine Dokumentation erst nach der Herausgabe der IMK-Statistik, um einen Abgleich mit dieser sowie eventuell notwendige Nachrecherchen berücksichtigen zu können. Setzt sich die gegenwärtige Praxis der IMK fort, könnte dies künftig unmöglich werden. Welche Konsequenzen sich daraus für die CILIP-Dokumentation polizeilicher Todesschüsse ergeben, ist noch nicht absehbar. Feststellen kann man jedoch jetzt schon, dass das seit Jahren sinkende Medieninteresse an der Frage des polizeilichen Schusswaffengebrauchs inzwischen in die ministerielle Ebene durchschlägt. 1999: überdurchschnittlich viele TodesschüsseNach Angaben des NRW-Ministeriumssprechers starben im vergangenen Jahr
insgesamt 15 Personen durch Schüsse von PolizeibeamtInnen. Das Jahr 1999
liegt damit wie zuletzt die Jahre 1993 (16 Fälle) und 1995 (21) über
dem Durchschnitt, der sich seit Mitte der 80er Jahre bei ca. 10-12
Todesschüssen eingependelt hatte. Eine generelle Tendenz zu mehr
tödlichen Schüssen lässt sich daraus jedoch nicht herleiten. Danach ergibt sich folgendes Bild: Polizeiliche Todesschüsse ereigneten sich auch 1999 wieder vorwiegend in Alltagssituationen. Nur in drei Fällen waren Polizeiaktionen vorbereitet, darunter ein Fall eines gezielten tödlichen Schusses. 14 der 15 getöteten Personen waren bewaffnet, vier mit Schusswaffen und eine weitere mit einer Schreckschusspistole. In den übrigen neun Fällen hatten die Getöteten die Beamten mit einem Messer, einer Eisenstange o.ä. angegriffen. Auch wenn damit grundsätzlich eine Notwehrsituation gegeben war, stellt sich die Frage, ob sich die Schussabgabe nicht hätte vermeiden lassen. Ungewöhnliche statistische Differenzen und ein SkandalUnd noch ein weiteres, erheblich schwerer wiegendes, Ergebnis förderte die Recherche zu Tage: Im Vergleich zu den offiziell genannten Zahlen sind im CILIP-Archiv vier Fälle mehr dokumentiert. Aus den eingangs genannten Gründen kommt es zwischen der CILIP-Zählung und den IMK-Zahlen regelmäßig zu Differenzen. Einen solch eklatanten Unterschied von 15 zu 19 hatte es indes schon lange nicht mehr gegeben. Durch eine Aussortierung aller Fälle, bei denen es keinen Zweifel an einer beabsichtigten Schussabgabe geben konnte, ließen sich auch die in den offiziellen Angaben nicht aufgeführten Vorgänge identifizieren. Nicht gemeldet und somit nicht erfasst wurden demnach ein Fall aus Baden-Württemberg (Fall 1 der Tabelle), zwei aus Nordrhein-Westfalen (Fall 14 und 17) sowie einer aus Thüringen (Fall 8). Unter Berücksichtigung der hierzu in der Presse berichteten Umstände (in drei Fällen waren die Getöteten unbewaffnet, in einem wurde später eine Schreckschusspistole gefunden) und in Kenntnis der Erfassungskriterien der IMK handelt es sich hier offenbar um jene "unbeabsichtigten Schussabgaben", mit denen die offizielle Statistik schöngerechnet wird. Im Falle des in Thüringen erschossenen Urlaubers Friedhelm Beate (Fall 8) wird diese ohnehin problematische IMK-Praxis zu einem Skandal. Im Zuge der bundesweiten Fahndung nach dem entflohenen Mörder Dieter Zurwehme war der Rentner von zwei thüringischen Zivilfahndern in seinem Hotelzimmer in Heldrungen erschossen worden. Kein Schusswaffeneinsatz der Polizei hat 1999 soviel Aufsehen erregt wie der Tod Beates. Das Gericht hatte ein Verfahren gegen die Todesschützen im Dezember 1999 zunächst eingestellt: Ein Gutachten hatte ihnen eine "starke Stresssituation" bescheinigt, als deren Folge die Schüsse "nicht auf einer bewussten Handlung" beruht hätten. Der Beamte, der Beate ins Herz geschossen hatte, habe "im Grenzbereich seiner Informationsverarbeitung" operiert. Sein Kollege sei durch diese Schussabgabe einem "unbewussten Mitzieheffekt unterlegen."[2] Nach dieser gerichtlichen Bereinigung der Tötung von Friedhelm Beate sind die Todesschüsse von Heldrungen nun auch höchstministeriell entsorgt und gar nicht erst in die Zählung polizeilicher Todesschüsse aufgenommen worden: ein bedauerlicher Unfall, jedoch zu unbedeutend, um auch nur als Zahl in einer Statistik festgehalten zu werden. Daran wird sich auch durch die im August 2000 neu aufgenommenen Ermittlungen nichts ändern.[3] Selbst wenn ein neues Verfahren gegen die Todesschützen zu einem anderen Ergebnis kommen sollte, wird dies auf die hausinterne IMK-Statistik für 1999 keine Auswirkungen mehr haben. Polizeiliche Todesschüsse 1999[4]
Otto Diederichs ist freier Journalist in Berlin. [1] Telefongespräch am 28.11.2000, taz v. 19.12.2000 [2] Frankfurter Rundschau v. 8.1.2000 [3] Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung v. 15.8.2000 [4] Die Tabelle wurde um zwei Auswertungen gekürzt. Das bisherige Kriterium "Staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren" hat sich überholt. Nach polizeilichen Schusswaffeneinsätzen mit Todesfolge wird in der Regel routinemäßig ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Über Qualität und Ausgang sagt dieser Automatismus nichts aus. Die Rubrik "Gerichtsverfahren" ist entfallen, weil deren Erfassung meist nur mit großen Schwierigkeiten möglich ist. Bis zur möglichen Klageerhebung vergehen häufig mehrere Monate. Eine Aufnahme in die Tabelle ist dann nicht mehr möglich. Sofern der Ausgang solcher langwieriger Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt bekannt wird, wird das Ergebnis in der CILIP-Chronologie aufgeführt. |
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Inhaltsverzeichnis | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2000-2002 HTML-Auszeichnung: Felix Bübl, Martina Kant Erstellt am 14. Januar 2001 - letzte Änderung am 18.07.2002 |