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Bürgerrechte & Polizei/CILIP 69 (2/2001) |
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Strafverteidigung im europäischen RechtsraumKritik der Situation - Perspektiven für die Strafverteidigung | |
von Wolfgang Bendler |
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Bei der Entwicklung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Europa sind die Rechte der Verteidigung und der Beschuldigten eine quantité négligeable geblieben - ein Zustand, mit dem sich die StrafverteidigerInnen nicht arrangieren dürfen. "Am ... teilte Europol, Zollamtmann D., hiesiger Dienststelle telefonisch mit, dass am Londoner Flughafen Gatwick bei einer Zollkontrolle des Flugs Nr. ... zwei Gepäckstücke mit mehreren Kilo Kokain festgestellt wurden. Die Koffer konnten den Personen namens ... zugeordnet werden, die einen Weiterflug nach München gebucht hatten", so heißt es in einem Ermittlungsbericht der deutschen Kriminalpolizei. Später - so ist demselben Bericht zu entnehmen - teilte Europol in einem weiteren Telefonat mit, dass die Personen abgeflogen waren. Sie wurden bei ihrer Ankunft in München festgenommen. Mit diesen knappen Erwähnungen hat es in der Akte sein Bewenden. Europol tritt wieder in die Anonymität zurück, ohne dass nachvollziehbar wäre, wie das Amt an die Information gelangt ist, ob eine Zusammenarbeit mit der Polizei in Deutschland, anderen EU-Mitgliedstaaten oder gar Drittstaaten stattgefunden hat, ob die Ausführung der Tat auf einer polizeilich oder staatlich zu verantwortenden Tatprovokation beruht oder ob es sich um eine "kontrollierte Lieferung" handelte. Unverzichtbare Informationen für die effektive Verteidigung des Beschuldigten bleiben vorenthalten und werden - das ist die große Besorgnis - auch nicht im Strafverfahren von den Gerichten oder auf Antrag der Verteidigung in das Verfahren eingebracht werden können. Strafverteidigung im europäischen Rechtsraum ist Zukunftsmusik. Sie hat noch keinen Platz im Gefüge der wachsenden Integration und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafverfolgung und des materiellen Strafrechts in Europa gefunden. Die europäische und internationale Strafrechtsentwicklung der letzten 30 Jahre war dominiert von der als vorrangig erachteten Zielsetzung, die Kriminalitätsbekämpfung auf der polizeilichen Ebene zu intensivieren. Dem entsprach seit Mitte der 70er Jahre - orientiert an den jeweils im Vordergrund stehenden Erscheinungsformen der Kriminalität (vom Terrorismus über den internationalen Drogenhandel, die sog. Organisierte Kriminalität und den Menschenhandel bis zur Einschleusung) - der organisatorische Ausbau der europäischen Polizeizusammenarbeit. Kennzeichnend für diese Entwicklung war und ist, dass sie stets von den Erfordernissen der Polizeipraxis bestimmt war, ohne dass eine Verrechtlichung und damit die Bindung an das Prinzip der Strafgesetzlichkeit intendiert war. Erst mit dem Maastrichter EU-Vertrag von 1992 erhielten diese Formen der informellen Kooperation einen Platz in der sog. Dritten Säule, die im Gegensatz zum Prinzip der Vergemeinschaftung in der Ersten Säule lediglich einen administrativen Rahmen für die Förderung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zur Verfügung stellen soll. In einem derartigen, primär an der Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung orientierten Konzept haben die Rechte der Beschuldigten und ihrer Verteidigung keinen Platz. Die rasante Entwicklung der europäischen Polizeikooperation kulminierte in der Europolkonvention. Die stürmische Entwicklung auf diesem Gebiet und die weitreichenden negativen Folgen für die Strafverteidigung haben die fortschrittlichen Juristen- und die Bürgerrechtsorganisationen verschlafen. Vergemeinschaftung versus KooperationAber auch die Justiz in den Mitgliedstaaten hat allzu lange in den unisono vorgetragenen Ruf nach der Effektivierung der internationalen Verbrechensbekämpfung eingestimmt. Sie begreift erst jetzt langsam, dass sie unterdessen viele Kompetenzen an die Polizeiexekutive abgegeben und die Wahrnehmung ihrer Kontrollpflichten vernachlässigt hat. Diese späte Erkenntnis führte zunächst in deutschen Justizkreisen zu einer aufgeschlossenen Haltung gegenüber den Protagonisten einer Vergemeinschaftung der europäischen Rechtskontrolle mittels einer langfristigen Verrechtlichung in der Ersten Säule des EU-Vertrags. In die Richtung der Vergemeinschaftung stieß auch der Entwurf des Corpus Juris, mit dem - bei aller Kritik - der Versuch unternommen werden sollte, strafrechtliche Ermittlungen wieder in die justizielle Obhut zu nehmen und dem polizeilichen "Eigenleben" Grenzen zu setzen. Geboren wurde das Konzept des Corpus Juris aus der angenommenen Notwendigkeit, Straftaten gegen den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft mit einem eigenen Verfolgungsapparat, einem allgemein geltenden vergemeinschafteten Strafverfahrensrecht und einem allgemeinen, auf die einschlägigen strafbaren Sachverhalte zugeschnittenen materiellen Strafrecht zu bekämpfen. Entworfen wurde dieses Konzept von einer von der Kommission beauftragten, aber eher zufällig zusammengewürfelten Gruppe von Strafrechtsexperten, die mit Ausnahme ihrer juristischen Kompetenz und Herkunft aus verschiedenen Mitgliedstaaten keine weitere Legitimation für ihre Arbeit hatten. Die Verteidigungsrechte sind im Corpus Juris äußerst mangelhaft geregelt. Auffallend ist, dass die Rechte des Beschuldigen im Ermittlungsverfahren überhaupt nicht positiv ausformuliert, sondern nur durch Verweis auf die Rechte des Angeklagten im Hauptverfahren umschrieben sind. Die Regelung enthält mit Ausnahme eines aber nur vage umschriebenen nemo-tenetur-Prinzips (des Rechts, sich nicht selbst beschuldigen zu müssen) und des Anspruchs auf Bekanntgabe des Gegenstands der Beschuldigung keine einzige positive Beschreibung der Rechte des Beschuldigen. Der Entwurf des Corpus Juris ist nicht nur im materiellen Teil wegen der Unbestimmtheit der Tatbestände und Ausweitung der Strafbarkeit mittels abstrakter Gefährdungsdelikte scharf kritisiert worden. Auch im formellen Teil hält er einer an unseren prozessualen Standards orientierten Kritik nicht Stand. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es um den Ruf nach einem einheitlichen vergemeinschafteten europäischen Strafrecht still geworden, wenngleich die Vision von der "Schaffung eines europäischen Justizraumes und der Entwicklung einer eigenständigen europäischen Justiz-Kultur" u.a. bei der EU-Kommission weiterlebt. Kritik und WiderstandDiese - hier nur skizzierten - Grundlinien für ein europäisches Strafverfahrensrecht sind wie der Corpus Juris in der nationalen juristischen Diskussion auf heftigen Widerstand gestoßen: Liberale und fortschrittliche Rechtstheoretiker führen demokratische Legitimationsdefizite ins Feld und bemängeln die fehlende Einbindung der Strafrechtsentwicklung in die Diskussion um eine europäische Verfassung. Sie befürchten, wie viele Strafverteidiger auch, dass die Errungenschaften unserer strafprozessualen Rechtskultur untergehen in einem Vergemeinschaftungsprozess, der sich bei Gewährleistung prozessualer Rechte der Verteidigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Mitgliedstaaten einpendeln wird - eine Gefahr, die angesichts der bevorstehenden Osterweiterung und der zumindest mittelfristigen Mitgliedschaft der Türkei nicht von der Hand zu weisen ist. Widerstand kommt aber auch aus den eher konservativ geprägten Justizverwaltungen der Mitgliedstaaten, für die die Abgabe von Kompetenzen an eine Europäische Strafverfolgungsbehörde verbunden ist mit einem unvorstellbaren Souveränitätsverzicht. Sie berufen sich in ihrer Ablehnung auch auf die fehlenden Rechtsgrundlagen für eine Vergemeinschaftung des Strafverfahrensrechts. Insgesamt scheint dem Motor der Entwicklung eines Europäischen Strafrechts derzeit die Energie ausgegangen zu sein. Schomburg begrüßt den "Paradigmenwechsel seit Tampere" und dürfte damit all jenen aus dem Herzen sprechen, die "visionären" Integrationsmodellen schon immer mit Skepsis begegnet waren. Es sind dies dieselben, die seit eh und je der Effektivität der internationalen Verbrechensbekämpfung den Vorrang eingeräumt haben vor einer am Prinzip der Strafgesetzlichkeit orientierten Strafverfolgung und einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Eurojust - ein Modell der JustizbürokratieVor diesem Hintergrund ist das Konzept von Eurojust einzuschätzen. Nicht der Zuwachs an justizieller Kontrolle über die - den Fesseln des Strafverfahrensrechts entwachsene - Polizeipraxis ist Zweck und Ziel der neuen Kooperation, sie unterwirft sich vielmehr ihrerseits denselben Effizienzanforderungen an die Kriminalitätsbekämpfung wie die Polizei. Dass dem so ist, erweist auch die Kritik der Justizverwaltungen an der Schwerfälligkeit, Widersprüchlichkeit und Ineffizienz der bislang aufgrund von zwischenstaatlichen Vereinbarungen und völkerrechtlichen Konventionen geregelten Polizei- und Justizkooperation. Sie betrifft sowohl die bilateralen Rechtshilfeverträge, die Übereinkommen des Europarats auf dem Gebiet der Rechts- und Vollstreckungshilfe als auch die Übereinkommen der EU, insbesondere auch das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) mit seinen am Territorialprinzip festhaltenden Regelungen auf dem Gebiet des Informationsaustausches und der Beweiserhebung durch grenzüberschreitende Observation und Nacheile (Art. 39-41 SDÜ). Insgesamt scheint sich die langjährige Enttäuschung über die Impraktikabilität der bisherigen aufgrund von Vereinbarungen und Konventionen geregelten justiziellen Zusammenarbeit Luft zu machen. In dieses Vakuum stößt das neue Kooperationsmodell mit dem ebenso verheißungsvoll klingenden wie euphemistischen Namen Eurojust. Räumlich ist es auf die Mitglieder der EU beschränkt, und sachlich betrifft es im Wesentlichen nicht die Rechtsschutz gewährende Funktion der Justiz. Davon ist namentlich in Art. 31 des Amsterdamer Vertrages, der die justizielle Zusammenarbeit regelt, nicht die Rede, wohl aber von der "Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ministerien und den Justizbehörden ... bei Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Entscheidungen". Für Strafverteidiger endet die Bestandsanalyse mit einem enttäuschenden Ergebnis. Die Wahrung der Rechte der Beschuldigten und Angeklagten im strafrechtlichen Ermittlungs- und Hauptverfahren ist im Rahmen der Europäisierung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit eine quantité négligeable. Mit Ausnahme des Corpus Juris tauchen die Rechte der Verteidigung weder in den bilateralen Verträgen noch den europäischen Konventionen (Rechtshilfe, EUROPOL etc.) auf, und auch bei der Kooperation der Justizbehörden sind Begriffe wie "Beschuldigter" oder "Verteidigung" unbekannt. Thesen zur Strafverteidigung im europäischen RechtsraumFür die Strafverteidiger resultiert daraus nur eine mögliche Schlussfolgerung: Sie dürfen sich mit diesem Zustand nicht arrangieren, wenn sie sich nicht für immer aus dem Entwicklungsprozess ausklinken und uns auf die Positionen des jeweiligen nationalen Rechts verweisen lassen wollen. Dies mag zwar in der Bundesrepublik noch nicht vordringlich erscheinen, längerfristig besteht aber die Gefahr der Angleichung unserer Standards zum Schlechteren. Ich will deshalb den Versuch unternehmen, einige Leitlinien für den Begriff "Strafverteidigung im europäischen Rechtsraum" zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen - in der Hoffnung auf eine aktivere Beteiligung der Anwaltschaft an den zukunftsträchtigen Entwicklungen, an deren Anfang wir heute stehen. 1. Aus der Zustandsbeschreibung dürfte klar geworden sein, dass der Raum für eine Europäische Strafverteidigung erst geschaffen werden muss. Das verlangt aber zugleich eine Entscheidung für die Europäisierung des Strafrechts. Nur in einem langfristig zu schaffenden europäischen Strafverfahrensrecht können die "schützenden Formen" implementiert werden, in denen sich Strafverteidigung erst entfalten kann. 2. Die Insuffizienz der nationalen Strafverfolgungssysteme bei gleichzeitiger Internationalisierung der Erscheinungsformen von Kriminalität macht die Diskussion der Grundlagen für ein Europäisches Strafrecht unausweichlich. Sie gehört nicht - wie bisher - in Expertenzirkel, sondern muss in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten geführt und in die Debatte über eine Europäische Verfassung eingebettet werden, und zwar über die soeben verabschiedete Grundrechtecharta hinaus. Die Diskussion hat sich zu orientieren an den Prinzipien
3. Auf dem Weg zum Europäischen Strafrecht ist mittelfristig eine Europäische Strafverfolgungsbehörde anzustreben, die auf der Grundlage einer Europäischen Konvention analog dem Strukturprinzip der Europolkonvention zu bilden ist. Im Bereich von Eingriffen in geschützte individuelle Rechtspositionen muss sie dem Richtervorbehalt entsprechend dem im Corpus Juris konzipierten "Richter im Ermittlungsverfahren" (Juge des libertés) unterworfen sein. Ihr obliegt die Sachleitungsbefugnis und Kontrolle der Arbeit von EUROPOL und OLAF. Soweit individuelle Rechte tangiert sind, muss ein Anspruch auf rechtliches Gehör, auf anwaltliche Vertretung gegenüber einer zukünftigen Europäischen Strafverfolgungsbehörde (ESB) mit dem Recht auf Akteneinsicht und Zugang zur richterlichen Kontrolle durch den "Richter im Ermittlungsverfahren" gewährleistet sein. Gegen dessen Entscheidungen ist der Rechtsweg zu einem noch zu bildenden speziell für die Rechtskontrolle des ESB zuständigen Spruchkörper des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu eröffnen. 4. Unabhängig von der Errichtung einer Europäischen Strafverfolgungsbehörde ist für die Arbeit von Eurojust neben ihrer Aufgabe der Förderung der Justizzusammenarbeit zu fordern:
Wolfgang Bendler ist Rechtsanwalt in München und vertritt den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein in dem Dachverband Europäische Demokratische Anwälte (EDA). Der Artikel ist die gekürzte Version eines Vortrags beim 25. Strafverteidigertag am 9.-11.3.2001 in Berlin.
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© Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2001 HTML-Auszeichnung: Martina Kant Erstellt am 01.07.2002 - letzte Änderung am 01.07.2002 |