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Pressemitteilung
des Interdisziplinären Arbeitskreises Innere Sicherheit (AKIS)

Marburg / Duisburg, den 14.01.2002

Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik

Vor vier Monaten erschütterte der Terroranschlag des 11. September die Welt. In den darauffolgenden Monaten veränderten sich die Voraussetzungen und Bedingungen innerer und äußerer Sicherheit grundlegend. In einem bis dato nicht gekannten Tempo wurden die Sicherheitspolitiken insbesondere westlicher Staaten verändert. Allein in der Bundesrepublik Deutschland wurden im Zuge der Sicherheitspakete I und II rund 100 Gesetze novelliert, die allesamt Ausweitungen und Verschärfungen der Befugnisse der Sicherheitsbehörden zum Inhalt haben. Im Verständnis der staatlichen Sicherheitsbehörden sollen diese Maßnahmen dazu beitragen, die Sicherheit und den Schutz der Bürger vor vergleichbaren Terroranschlägen zu gewährleisten sowie Täter und Unterstützer festnehmen zu können. Aus Sicht von Bürgerrechtsgruppen werden dagegen Tendenzen hin zum Überwachungsstaat gesehen und ein weitgehender Abbau von Freiheits- und Bürgerrechten befürchtet.

Der Interdisziplinäre Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS) ist ein 1996 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von rund 160 Wissenschaftlern vorrangig aus dem Hochschulbereich, die sich mit Forschung zur Inneren Sicherheit und Polizeiforschung beschäftigen. Vertreten sind insbesondere die Fachrichtungen Politikwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft, Kriminologie und Historische Polizeiforschung.

Der Interdisziplinäre Arbeitskreis Innere Sicherheit (AKIS) hat am 11. Januar 2002 auf einer Sondersitzung in Duisburg eine 10-Punkte-Erklärung zu den gesellschaftlichen und politischen Folgen des 11. September vorgelegt:

1. Aktuelle Sicherheitspolitik überfordert Sicherheitsbehörden und Bürger

Die Sicherheitspakete I und II, die zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet worden sind, müssen im Zusammenhang gesehen werden mit der Entwicklung der Sicherheitspolitik seit den 80er Jahren. In immer neuen Schüben werden kurzfristig für aktuell wahrgenommene Bedrohungslagen (Organisierte Kriminalität, Rechtsextremismus, Terrorismus) umfangreiche gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen geschaffen. Die jeweiligen Bedrohungslagen werden hierbei weder ausreichend hinsichtlich ihrer Ursachen analysiert, noch bleibt genügend Zeit, entsprechend angemessene kriminalpolitische, kriminalstrategische sowie flankierend gesellschaftspolitische Maßnahmen zu entwickeln. Sobald neue Probleme auftauchen, beginnt der Kreislauf erneut. Die zuvor begründeten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen, in der Regel kaum vollständig entwickelt, werden dadurch aber nicht beendet, sondern bestehen weiter fort. In der Folge entsteht ein Wust an Rechtsnormen. Dies überfordert einerseits die Sicherheitsbehörden selbst, weil das dort tätige Personal angesichts der nicht mehr eindeutigen Zielvorgaben und vor dem Hintergrund knapper Ressourcen an Zeit, Geld und Personal keinen klar eingegrenzten Handlungsrahmen mehr vorfindet. Andererseits führt es bei vielen Bürgern zu einem wachsenden Gefühl eines aufziehenden Überwachungsstaates, weil die Sicherheitsgesetzgebung und die Aufgabenstruktur der Sicherheitsbehörden nicht mehr transparent sind. Letztlich wird damit das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen insgesamt untergraben. Denn wenn jede neue Problemlage so grundlegende Gesetzesänderungen erforderlich macht, wird damit seitens des Staates auch ausgedrückt, dass die zuvor geltenden Rechtsgrundlagen offensichtlich nicht geeignet waren, neue Gefahren abzuwehren.

2. Evaluierung von Sicherheitsgesetzen erforderlich

Aus der Erfordernis sowohl von Effizienz und Effektivität der Sicherheitsbehörden als auch der demokratischen Transparenz der Staatstätigkeit und der Gewähr von Freiheits- und Bürgerrechten entsteht die Notwendigkeit, insbesondere im Sicherheitsbereich zu einer regelmäßigen Evaluierung von Gesetzesmaßnahmen überzugehen. Die Evaluierung sollte zwingend nach einem Zeitraum von rund fünf Jahren einsetzen und Informationen darüber liefern, in welchem Umfang eine Gesetzesmaßnahme zu sichtbaren Wirkungen im Sinne der angestrebten Ziele geführt hat. Bleiben diese Wirkungen aus, ist über den weiteren Fortbestand der Gesetzesmaßnahme erneut zu beschließen.

3. Zeitliche Befristung von Sondermaßnahmen notwendig

Bei gesetzlich begründeten Sondermaßnahmen, wie beispielsweise aktuell zur Terrorismusbekämpfung, ist zudem prinzipiell eine zeitliche Befristung vorzunehmen. Werden sie nicht ausdrücklich vom Gesetzgeber verlängert, treten sie nach Ablauf der Zeit außer Kraft. Evaluierung und zeitliche Befristung bilden ein wirkungsvolles Instrument, um den Prozess einer beständigen, schließlich nicht mehr transparenten Aufschichtung von immer neuen Rechtsgrundlagen zu unterbrechen.

4. Angemessenheit der sicherheitspolitischen Instrumente zweifelhaft

Die aktuelle Terrorismusdebatte zeigt, dass insbesondere aus dem kurzfristigen Handlungszwang, dem die Politik sich ausgesetzt sieht, sehr schnell zu solchen Instrumenten gegriffen wird, zu denen Erfahrungswerte vorliegen. So sind viele der Instrumente, die jetzt gegen den internationalen und islamistischen Terrorismus eingesetzt werden, der RAF-Terroristenverfolgung aus den 70er Jahren entlehnt. Diese Erfahrungen lassen sich aber nicht übertragen. Tätermotive, Täterprofile, Täterdenkweisen und Tatstrukturen unterscheiden sich grundlegend voneinander. Die auf Abschreckung angelegten Instrumente der 70er Jahre (der Täter muss befürchten, Leben und Freiheit zu verlieren) versagen bei Tätern, die ihr Leben als Waffe einsetzen. Damit besteht die Gefahr fehlender Wirksamkeit der eingesetzten Maßnahmen. Es droht zudem die hilflose und undifferenzierte Ausweitung des Extremismusbegriffes und der potentiellen Verdachtsannahme gegen ganze Bevölkerungsgruppen insbesondere arabisch-islamischer Herkunft.

5. Dialog zur Migrationspolitik aufnehmen

Die aktuelle Sicherheitspolitik ist nicht zu trennen von den Thematiken Migration, Zuwanderung und Integration. Die Bundesrepublik muss sich die Frage stellen, warum es nicht nur weitgehend fehlgeschlagen ist, die de facto zugewanderten Bevölkerungsgruppen einzugliedern, sondern dass es gerade bei der zweiten und dritten Generation der hier lebenden Zuwanderer Anzeichen dafür gibt, dass selbst die geringen Integrationserfolge sogar wieder rückläufig sind. Die rein formalrechtliche Verleihung von Staatsbürgerrechten wird das Problem nicht lösen. Es muss ein Dialog begonnen werden mit den Verbänden und Vertretern von Bevölkerungsgruppen ausländischer Herkunft. Nur im Dialog läßt sich erreichen, dass Maßnahmen gegen nicht zu bestreitende Entwicklungen (fundamentalistische Lehren in einem Teil der Koranschulen, Ausnutzung des nunmehr gestrichenen Religionsprivilegs für extremistische Zielsetzungen) von den betroffenen Bevölkerungsgruppen nicht als Bestätigung für Mißtrauen, Ausgrenzung und Ablehnung insgesamt wahrgenommen werden.

6. Verzahnung von äußerer und innerer Sicherheit schwächt demokratische Kontrolle

Der Terroranschlag des 11. September und deren Folgen haben gezeigt, dass die Belange von äußerer und innerer Sicherheit erheblich miteinander verzahnt sind. Der 11. September ist aber auch hier nicht Ursache, sondern hat eine Entwicklung bewußt werden lassen, die sich bereits seit Jahren abzeichnet. Innere Sicherheit ist längst nicht mehr souveräne nationale innere Sicherheit. Je stärker die Staaten im Zuge von Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung miteinander vernetzt werden, desto weniger sind Auswirkungen von Krisen und Konflikten national begrenzbar, desto mehr wird die eigene Sicherheitspolitik von Entscheidungen und Ereignissen in anderen Staaten und Regionen der Welt beeinflusst. Im Zuge dieser Veränderungen hat sich seitens der Sicherheitsbehörden ein Geflecht von internationalen Kooperationen entwickelt. Die Frage der Effizienz und Effektivität solcher Kooperationen bildet aber nur eine Seite des Problems, ebenso gravierend ist die Konsequenz, dass die auf nationale Zusammenhänge angelegten Kontrollinstrumente (parlamentarische, richterliche und öffentliche Kontrolle) mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten und damit demokratische Standards aufweichen. Dies betrifft nicht nur den Sicherheitsbereich, sondern alle Politikbereiche. Der Sicherheitsbereich mit seinen weitgehenden Eingriffsbefugnissen in die Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft lässt diese Defizite aber besonders spürbar werden.

7. Europäische Innere Sicherheit in Verfassungsprozeß einbeziehen

Herausgehoben ist hier besonders die Entwicklung des europäischen Sicherheitsverbundes in der EU. In der öffentlichen Diskussion wird allenfalls Europol wahrgenommen, in der Regel mit der vereinfachten Einschätzung, es handele sich um eine wenig wirkungsvolle Einrichtung. Weder trifft dies für die 1999 förmlich erst begründete Europolbehörde zu, noch erschöpft sich damit der europäische Sicherheitsverbund. Umfangreiche Einrichtungen und formelle und informelle Netzwerke zählen dazu: Das Geflecht der Kooperationsgremien des Dritten Pfeilers der EU (vergleichbar zur Gremienstruktur der bundesdeutschen Innenministerkonferenz), welche die europäische Sicherheitspolitik in starkem Maße prägen; davon getrennt das Schengener Sicherheitssystem einschließlich des Schengener (Fahndungs- und) Informationssystems SIS; darüber hinaus die Zusammenarbeit der Zollbehörden; ebenso die Kooperation der Nachrichtendienste. Sie alle bilden einen umfangreichen Sicherheitsverbund. Am Beispiel der Bundesrepublik gemessen nimmt die europäische Ebene im deutschen Sicherheitsverbund bereits einen vergleichbaren Stellenwert ein wie die Sicherheitseinrichtungen der Länder oder die des Bundes. De facto liegt ein Drei-Ebenen-System vor. Das europäische Sicherheitssystem ist aber weder den demokratischen Kontrolleinrichtungen der Mitgliedsstaaten, noch den Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments unterworfen. In der Konsequenz ist es dringend erforderlich, diesen Fragen einen zentralen Stellenwert im Zuge der im März 2002 beginnenden Beratungen des EU-Verfassungskonvents einzuräumen, der damit beauftragt ist, eine europäische Vertragsverfassung für die EU auszuarbeiten. Parallel zur Vertragsverfassung müssen die EU-Verträge vereinfacht und die jetzigen zwischenstaatlichen Formen der Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik in das Gemeinschaftsrecht einbezogen werden, um so zumindest einen Mindeststandard demokratischer Kontrollmöglichkeiten zu erhalten.

8. Ausbau von Europol setzt europäisches Rechtssystem voraus

Der weitere Ausbau von Europol muss an diese Voraussetzungen rechtsstaatlicher Standards gebunden werden. Politische Initiativen, die die Weiterentwicklung von Europol ganz in die Zuständigkeit der europäischen Innenminister legen wollen, also auch ohne den (weil zwischenstaatlich: umständlichen) Weg der Novellierung der Europol-Konvention mit anschließender Ratifizierung in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten, würde die rechtsstaatliche Problematik durch eine einseitige Ausrichtung auf verwaltungsförmige Effektivität verschärfen. Effektivität kann in einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht in einem Gegensatz zu Beteiligung, Kontrolle und Transparenz definiert werden. Der Ausbau einer unabhängigen europäischen Staatsanwaltschaft sowie die richterliche Kontrolle für die Zuständigkeitsbereiche der europäischen Strafverfolgungsbehörden müssen Bestandteil der revidierten Europaverträge werden ebenso wie dies für die parlamentarische Kontrollfunktion zu gelten hat.

9. Effektive Sicherheitspolitik muss Schutz von Freiheitsrechten beinhalten

"Datenschutz ist Täterschutz". - Immer mehr gewinnt in der politischen Auseinandersetzung diese nicht belegte Aussage an Bedeutung, vor allem immer dann, wenn Gründe für die fehlende Wirksamkeit kurzfristig angelegter kriminalpolitischer Instrumente gesucht werden. Die Existenz wirksamen Datenschutzes kennzeichnet aber gerade den Rechtsstaat im Gegensatz zum totalitären Überwachungsstaat, der versucht, möglichst alles über seine Untertanen zu erfahren. Im Rechtsstaat bedarf jeder staatliche Eingriff in die Privatsphäre der Bürger einer überzeugenden Rechtfertigung sowie einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Datenschutz steht in diesem Sinne synonym für den Grundsatz, dass der Staat von der Unschuldsvermutung gegenüber seinen Bürgern auszugehen hat. Der Staat steht nicht über der Gesellschaft, er erfüllt Aufgaben für die Gesellschaft und für die Bürger dieser Gesellschaft. Mit der Abkehr vom Datenschutz gewinnt damit nicht nur ein längst überwunden geglaubtes Staatsverständnis des starken, von der Gesellschaft unabhängigen Staates wieder an Bedeutung, sondern zugleich werden auch andere rechtsstaatliche Prinzipien ausgehöhlt. Es findet stillschweigend eine Umkehr der Beweislast statt, wonach der Beschuldigte mehr und mehr seine Unschuld beweisen, anstatt das ihm Schuld nachgewiesen werden muss. Es wird immer deutlicher vorbeugend gegen potentiell Verdächtige vorgegangen (Aufenthaltsverbote, Schleierfahndung etc.), anstatt ausgehend vom Störerprinzip konkret gegen die Verdächtigen einer Straftat oder die Verantwortlichen einer Gefahr zu ermitteln bzw. einzuschreiten. Es erfolgt zunehmend die Aufweichung des Rechts auf die informationelle Selbstbestimmung, wonach Daten vor dem Zugriff anderer, auch des Staates, sofern nicht der Verdacht einer konkreten Straftat vorliegt, zu schützen sind. Sicherheit ist ein legitimes Gut eines jeden einzelnen. Auch die Sicherheitsinteressen des Staates haben legitime Geltung. Sicherheit in der Demokratie bedeutet aber auch, die Sicherheit des einzelnen vor ungerechtfertigten Ansprüchen anderer und des Staates zu schützen. Auch angesichts, oder gerade angesichts fundamentalistischen Terrorismus, darf die Verteidigung der Freiheiten demokratischer Gesellschaften nicht zu einem Abbau bürgerlicher Freiheiten führen.

10. Definition von Sicherheit ist gesellschaftliche Aufgabe, nicht exklusive des Staates

Langfristige Entwicklungen, wie die aufgezeigten, und aktuelle Bedrohungen, wie der derzeitige Terrorismus, haben die Voraussetzungen und Grundlagen der Sicherheitspolitik verändert. Erforderlich sind keine isolierten Problemanalysen, sondern interdisziplinär vernetzte Analysen über die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Konsequenzen von Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft. Eine interdisziplinäre Sicherheitsforschung muss vor allem die durch Fachdisziplinen getrennten Wissensbestände der Sozial-, Kriminal-, Polizei- und Rechtswissenschaften zusammenführen. Die bislang stark verschulten Ausbildungsgänge insbesondere der Fachhochschulen für Polizei und anderer Sicherheitsbehörden sind hier inhaltlich zu öffnen, ebenso wie an den Universitäten interdisziplinäre Ergänzungs- und Weiterbildungsstudiengänge zum Bereich "Sicherheits- und Konfliktforschung" einzurichten sind. Fragen der Sicherheitsbewertung und der gesellschaftlichen Konfliktregelung sind in Zukunft nicht mehr begrenzbar auf die Zuständigkeit weniger staatlicher Exekutivbehörden wie Polizei oder der Justiz. Je stärker der Sicherheitsbegriff sich einerseits international ausweitet, andererseits durch Tendenzen von Privatisierung und bürgerschaftlicher Einbindung ausgedehnt wird, desto mehr bedarf es hierzu fundierter Wissensgrundlagen in Lehre und Forschung der unterschiedlichsten Ausbildungsbereiche, um das notwendige Wissen nicht nur instrumentell, sondern gesellschaftlich verantwortlich anwendbar werden zu lassen.


Pressekontakt zum AKIS:
Privatdozent Dr. Hans-Jürgen Lange (Sprecher des AKIS)
Philipps-Universität Marburg
Institut für Politikwissenschaft
Wilhelm-Röpke-Str. 6
35032 Marburg
Tel.: 0234 / 85 41 57
Fax: 0234 / 85 41 57

E-Mail: langeh@mailer.uni-marburg.de
Internet: www.ak-innere-sicherheit.de oder www.akis.info



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© 2002 AKIS
HTML-Auszeichnung: Martina Kant
Erstellt am 18.03.2001 - letzte Änderung am 29.07.2002