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Bürgerrechte & Polizei/CILIP 44 (1/1993)

abstand

Tödlicher Schußwaffeneinsatz der Polizei 1974 - 1992

Vorsichtige Korrektur einer These


von Falco Werkentin


Obwohl seit 1990/91 mit der Vereinigung Deutschlands nicht nur die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik, sondern auch die Zahl der polizeilichen Waffenträger erheblich gewachsen ist, stagniert die Zahl der Fälle polizeilichen Schußwaffeneinsatzes mit Todesfolge. Wie bereits 1991 gab es auch 1992 nur 9 Todesfälle. Damit scheint sich ein Trend zu stabilisieren, der von CILIP seit längerem beobachtet und dokumentiert wird.

Seit den ersten Ausgaben hat CILIP Jahr für Jahr die Fälle tödlichen polizeilichen Schußwaffeneinsatzes in der BRD dokumentiert und analysiert.[1] Dahinter stand der Gedanke, daß es für die innerstaatliche Gewaltfähigkeit und -bereitschaft keinen besseren, keinen härteren und keinen so gut erfaßbaren Indikator gibt wie den polizeilichen Schußwaffeneinsatz mit Todesfolge. Zudem gingen wir in den 70er Jahren von der These aus, daß mit dem Auf- und Ausbau polizeilicher Spezialeinheiten - von Präzisionsschützenkommandos (PSK) über Sondereinsatzkommandos (SEK) bis zu den Mobilen Sondereinsatzkommandos (MEK) - sich als Trend die Zunahme tödlicher Lösungen bei Einsätzen gerade dieser Spezialeinheiten durchsetzen würde.

Die Gesamtentwicklung 1974 bis 1992

Die erstellte Gesamtübersicht über die Jahre 1974 bis 1992 widerlegt diese Ausgangsthese. Die gleichbleibend hohen Ziffern für den Schußwaffeneinsatzes insgesamt (Spalte 1 der Tabelle) erklären sich zu fast 90% aus dem Einsatz gegen Tiere. Demgegenüber ist es der Polizei im Laufe der 15 Jahre, für die von CILIP detaillierte Angaben gemacht werden können, gelungen, den gezielten Schußwaffeneinsatz gegen Menschen deutlich zu verringern (vgl. Spalte 3). Auffällig bleibt, daß die Fälle des gezielten Schußwaffeneinsatzes auf Menschen mit Todesfolge (vgl. Spalte 6) nicht proportional zum Rückgang des gezielten Schußwaffeneinsatzes gegen Menschen abnehmen. Anders ausgedrückt: Polizeibeamte schießen im Laufe der Berichtszeit zwar deutlich seltener auf Menschen, treffen dann jedoch häufiger mit tödlichem Ergebnis. Gleichwohl zeigt sich auch bei den Schüssen mit Todesfolge, ungeachtet der von Jahr zu Jahr z.T. erheblichen Schwankungen, seit 1974 eine deutlich rückläufige Tendenz. Kommt es zu tödlichen Folgen, so werden diese in den wenigsten Fällen von Beamten der Sonderkommandos verursacht. Sie haben offenbar - und dies war auch das Versprechen beim Aufbau dieser Gruppen - insgesamt recht erfolgreich die Fähigkeit entwickelt, schwierige Situationen ohne tödlichen Schußwaffeneinsatz zu bewältigen. Es sind überwiegend alltägliche Situationen, in denen Streifenbeamte ohne Vorbereitungszeit ad hoc reagieren müssen, die zu tödlichen Folgen führen.

Polizeilicher Schußwaffeneinsatz (Bund und Länder) 1974 - 19921

Ab 1991 einschließlich der neuen Bundesländer!

Jahr Anzahl insg. davon Todesopfer Verletzte Personen-
schäden insg.
Warn-
schüsse
gezielt auf Menschen auf Sachen unzulässige Schüsse insg. davon Unbeteiligte insg. davon Unbeteiligte
  I II III IV V VI VII VIII IX X
1974           10        
1975           13        
1976 1.794 219 141 46 37 8 1 73 6 81
19772 1.827 192 160 76 14 17(+4) - 80 5 97(101)
1978 1.659 162 111 87 13 7 1 65 1 72
19793 1.875 161 104 102 - 11 1 64 8 74
19804 2.078 159 111 65 20 16 - 56 2 72
1981 2.145 150 93 86 12 17 - 56 5 73
1982 2.104 163 87 77 20 11 - 74 3 85
1983 2.330 139 54 88 26 24 2 42 2 66
19845 2.420 114 35 51 18 6 - 23 - 29
1985 2.244 116 54 53 15 10 2 32 3 42
19866 2.199 105 53 66 13 12 - 32 2 44
1987 2.003 102 57 60 6 7 - 33 - 40
19887 2.056 114 56 45 14 10 1 41 - 51
19898 1.920 102 59 48 9 10 - 41 - 51
1990 2.014 162 52 38 5 109 - 36   46
1991 2.359 271 114 125 22 9 - 89 1 98
1992           910        

Anmerkungen zur Tabelle:
1  Zusammengestellt nach Daten der PFA, die diese im Auftrag der IMK erhebt. Bis auf die Kategorie "Personenschäden insgesamt" entsprechen die Spalten dieser Tabelle den Kategorien der PFA/IMK-Statistik. Die Zahlen für 1974 und 1975 wurden nach Pressemeldungen ermittelt.
2  Nicht enthalten in der PFA-Statistik ist der Mogadischu-Einsatz der GSG 9 mit 4 Todesfällen als Folge des Schußwaffeneinsatzes durch die GSG 9
3  Bürgerrechte & Polizei/CILIP dokumentiert einen Todesfall mehr als die PFA. Offiziell nicht gezählt wurde der Tod von R. Schmidt, der am 18.12.1979 bei einem Überfall auf einen Geldtransport in Berlin angeschossen wurde und am 8.2.1980 seinen Verletzungen erlag. Andererseits wurden von Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2 Todesfälle aus der PFA-Statistik herausgenommen. Sie betrafen Selbsttötungen mit der Dienstwaffe.
4  Aus der PFA-Statistik wurde ein Selbsttötungsfall herausgenommen.
5  Die PFA zählt einen Fall weniger. Nicht erfaßt wurde gemäß der seit 1983 geltenden neuen Erhebungsmodalitäten ein Fall am 1.7.1984 in Köln, da das Opfer versehentlich (Unglücksfall) erschossen wurde. "Unfälle (unbeabsichtigte Schußabgaben) werden seit der Neugestaltung des Erfassungsbogens im Jahre 1983 nicht erfaßt" - so die IMK-Geschäftsstelle mit Schreiben vom 5.6.1990 an die Redaktion.
6  Bürgerrechte & Polizei/CILIP dokumentiert 12 Todesfälle, die PFA nennt 11 Fälle
7  Bürgerrechte & Polizei/CILIP dokumentiert 9 Todesfälle , die PFA zählt 2 Fälle weniger, da es sich um eine unbeabsichtigte Schußabgabe mit Todesfolge ( vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 33 (2/1989), Fall 9) respektive um einen Unglücksfall (vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 33 (2/1989), Fall 7, Gladbecker Geiselbefreiung, bei der eine Geisel zu Tode kam) handle - vgl. Anmerkungen zu den Erfassungsmodalitäten der PFA und den Nachtrag für 1988 in dieser Ausgabe.
8  Die PFA zählt einen Todesfall weniger als Bürgerrechte & Polizei/CILIP 35 (1/1990) dokumentiert, da es sich um einen Unfall (vgl. FN 5) handle.
9  Es kamen drei Fälle in den neuen Bundesländern hinzu
10  Eigene, nicht von der IMK bestätigte Zahl


Würde man die Fälle des Schußwaffeneinsatzes gegen Menschen und Sachen - hinter dem Begriff "Sache" steht meist ein PKW, der zur Flucht benutzt wird - auf die Zahl polizeilicher Waffenträger bei Bund und Ländern beziehen, die seit 1974 von ca. 187.000[2] auf ca. 250.000 im Jahre 1992 (nun incl. der Polizeikräfte in den neuen Bundesländern)[3] gestiegen ist, so träte noch deutlicher zu Tage, daß im Verlaufe der letzten 19 Jahre bundesdeutsche PolizistInnen immer zurückhaltender beim Einsatz der Schußwaffe geworden sind.

Schaut man allerdings auf die Zeile für das Jahr 1991, so fällt auf, daß in diesem Jahr, in dem zum ersten Mal auch detaillierte Angaben aus den neuen Bundesländern erhoben wurden, zwar nicht die Schußwaffeneinsätze mit tödlichem Ausgang - die Schüsse gegen Menschen und Sachen sowie die Warnschüsse insgesamt gegenüber dem Vorjahr jedoch ganz erheblich angestiegen sind. Dies zeigt sich auch bei der Zahl der 1991 als "verletzt" registrierten Bürger. Ob dieser Anstieg nur auf die Meldungen aus den neuen Bundesländern zurückzuführen ist, läßt sich derzeit nicht feststellen. Wenn dem so wäre, so müßte noch geklärt werden, ob die hohen Zahlen aus Bewertungs- und Zuordnungsunsicherheiten entstanden sind oder ob sie tatsächlich die reale Situation widerspiegeln.

Der zwischen 1976 und 1990 erkennbare Rückgang polizeilichen Schußwaffeneinsatzes entspricht im übrigen - allen in Pressemeldungen wiedergegebenen Behauptungen der Polizei zum Trotz[4] einer allgemeinen Tendenz - auch bei Straftätern. Wie sich für die Jahre 1971 bis 1989[5] auf Grundlage der polizeilichen Kriminalstatistik zeigen läßt, sind seit 1971 auch Straftäter von Jahr zu Jahr immer weniger bereit, Schußwaffen einzusetzen. Registrierte das BKA 1971 noch 12.904 Fälle, in denen Straftäter geschossen haben, so waren es 1981 nur noch 8.969, die bis 1989 auf 4.633 Fälle drastisch zurückgingen. Für 1991 verzeichnet die BKA-Statistik 5.146 Fälle, in denen von Straftätern die Schußwaffe eingesetzt wurde.[6]

Angesichts des öffentlichen Bildes einer kontinuierlichen Zunahme der Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft sind dies ausgesprochen erfreuliche Indizien, auch wenn sie für sich genommen nicht ausreichen, das Maß an Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft und Entwicklungstendenzen in dieser Frage hinreichend zu bestimmen.

Tödlicher Schußwaffeneinsatz 1992

Die Übersicht für das Jahr 1992, die noch nicht mit der (für Herbst 1993 zu erwartenden) Statistik der Innenministerkonferenz abgeglichen werden konnte, stützt die vorstehend formulierten Erkenntnisse. Erneut sind es überwiegend alltägliche Situationen, in denen Polizisten ad hoc reagieren mußten. In zumindest vier von neun Fällen verfügten die Opfer über Schußwaffen, in zumindest drei Fällen kam es zum Schußwechsel. Obwohl gerade die Jahre seit der Vereinigung durch den Eindruck qualitativ wachsender Gewaltbereitschaft hauptsächlich in den neuen Ländern bestimmt sind und durch die desolate Situation der abziehenden Roten Armee Schußwaffen so leicht wie nie zuvor erworben werden können, kam es in den neuen Bundesländern 1992 nur in einem Falle zu einem tödlichen polizeilichen Schußwaffeneinsatz.

Fall 1 2 3 4 5
Name / Alter unbek. Strafgefangener unbek. Einbrecher, 25 J. unbek. Kranken-
hauspatient, 59 J.
Osama Mohamed, 22 J. unbek. Einbrecher, 26 J.
Datum 23.02.1992 10.04.1992 24.04.1992 03.06.1992 31.07.1992
Ort / Land Stralsund, Meckl.-Vorp. Kelsterbach, Hessen Bonn, NRW Hamburg Frankfurt, Hessen
Szenarium Zwei Strafgefangene fliehen unter Gewaltanwendung aus einer Klinik. Die Festnahme erfolgt kurz darauf; dabei wird einer der Männer erschossen. Zwei von der Polizei überraschte Einbrecher widersetzen sich der Festnahme; durch den Querschläger eines Warnschusses wird einer getötet; unterschiedliche Angaben zu evtl. Schußwechsel. Alkoholkranker Patient bedroht im Krankenhaus Mitpatienten mit Schußwaffe und Messer; als er auf herbeigerufene SEK-Beamte schießt, feuern diese zurück. Randalierender Ägypter entringt bei seiner Festnahme einem Beamten die Waffe und feuert auf ihn; dessen Kollegin schießt danach mehrfach zurück. Von der Polizei überraschter Einbrecher wird bei der Flucht über eine Regenrinne von einem im Hof postierten Beamten erschossen.
Opfer mit Schußwaffe? nein unklar ja (Gaswaffe) ja nein
Schußwechsel? nein unklar ja ja nein
Sonderein-
satzbeamte?
nein nein ja nein nein
Verletzte / getötete Beamte? nein nein nein ja, verletzt nein
Vorbereitete Polizeiaktion? nein nein nein nein ja
Staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren? ? ? ? ? ja
Gerichtsverfahren? ? ? ? ? ?
 
Fall 6 7 8 9  
Name / Alter unbek. Ruhestörer, 52 J. unbek. Bankräuber, ca. 35 J. unbek. Mann, 67 J. unbek. Vergewaltiger, 19 J.
Datum 03.08.1992 16.10.1992 17.10.1992 22.10.1992
Ort / Land Düren, NRW Körperich, NRW Kamen, NRW Stuttgart, Ba-Wü
Szenarium Ruhestörer greift eintreffende Polizeibeamte mit zwei Messern an; ein Beamter schießt "in Notwehr" auf den Mann und tötet ihn. Drei Bankräuber werden in der Bank bereits von der Polizei erwartet; sie bedrohen die Beamten mit Revolvern und Handgranaten; ein Beamter schießt. Bei einem Mietstreit schießt der Vermieter plötzlich auf die vermittelnden Polizisten und verletzt einen schwer; er wird daraufhin von dessen Kollegen erschossen. Ein mehrfacher Vergewaltiger beginnt nach der Tat eine Amokfahrt auf der Autobahn; bei der Festnahme wird er erschossen, nachdem er zuvor einen Streifenwagen gerammt hatte.
Opfer mit Schußwaffe? nein (Messer) ja (Revolver, Handgranaten) ja (Pistole) nein
Schußwechsel? nein nein ja nein
Sondereinsatzbeamte? nein ja nein nein
Verletzte / getötete Beamte? nein nein ja, verletzt nein
Vorbereitete Polizeiaktion? nein ja nein nein
Staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren? ? ? ? ?
Gerichtsverfahren? ? ? ? ?

Falco Werkentin ist Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Bürgerrechte und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.



[1] Zu den Quellen: Die Daten werden einerseits seit 1973 durch eine systematische Presseauswertung erhoben, soweit es polizeiliche Todesschüsse betrifft. Andererseits führt die Polizeiführungsakademie (PFA) im Auftrag der Innenministerkonferenz (IMK) jene detaillierte Statistik, die hier dokumentiert wird. Von kleineren Bewertungs- und Zähldifferenzen abgesehen, die in den Anmerkungen kenntlich gemacht sind, besteht bisher kein Anlaß, die Seriosität dieser Stastistik in Zweifel zu ziehen.
[2] vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 0 (1978)
[3] vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 43 (3/1992)
[4] zuletzt in: Berliner Zeitung v. 5.3.1993
[5] vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 37 (3/1990)
[6] Bundeskriminalamt (Hg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1991, S. 50

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HTML-Auszeichnung: Martina Kant
Erstellt am 03.02.2001 - letzte Änderung am 16.09.2002